#hawkconnected: Prof. Dr. Leonie Wagner zu den sozialen Folgen des Coronavirus

Erscheinungsdatum: 01.04.2020

Was geschieht mit Menschen in Tagesbetreuung, sei diese aus psychischen oder anderen Gründen, wenn sie zuhause bleiben müssen? Wie kann sozialpädagogische Familienhilfe in und mit überforderten Familien arbeiten? Was passiert in beengten und ohnehin von Gewalt und vielleicht auch Missbrauch geprägten Verhältnissen, wenn keine Möglichkeit der Intervention oder der Entlastung mehr besteht? Wie sollen die überlasteten Frauenhäuser reagieren, wie funktioniert Jugendhilfe? Findet Schwangerschaftskonfliktberatung statt? Was geschieht in Flüchtlingsunterkünften, wenn dort eine Infektion auftritt?

Prof. Dr. Leonie Wagner lehrt im Bereich Soziale Arbeit am HAWK-Standort Holzminden. Die HAWK-Pressestelle hat die Expertin um eine aktuelle Einschätzung gebeten:

Sie plädiert dafür, dass Soziale Arbeit während der Corona-Krise als „systemrelevant“ anerkannt wird. Leonie Wagner hebt nachdrücklich die Zusammenhänge von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung hervor und fordert, diese notwendige Einheit im politischen und öffentlichen Bewusstsein stark zu machen. Gerade angesichts zu erwartender Einsparungen in der sich abzeichnenden ökonomischen Krise müssten solche Zusammenhänge laut und vernehmbar vorgetragen werden, betont die Wissenschaftlerin.

 

Das auffällige Fehlen der Sozialen Arbeit in der Pandemie-Diskussion

„In den politischen und medialen Diskussionen rund um die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ging es zunächst um die Folgen für die Wirtschaft sowie im die für das Gesundheitswesen und ja, erfreulicherweise auch für Kultureinrichtungen und Familien. Im Gegensatz dazu blieben soziale Problemlagen ebenso unbeachtet wie soziale Einrichtungen und auch Experten und Expertinnen Sozialer Arbeit suchte man in den zahlreichen Debatten vergebens. Das erstaunt umso mehr, als doch mit der Einschränkung der Freiheiten und dem sukzessiven Lockdown klar sein musste, dass sich hier soziale Problemlagen in einer extensiven Weise entfalten würden: Dass die „Armen“, dass prekär Beschäftigte, marginalisierte Gruppen besonders betroffen sein würden, dass ohnehin vorhandene Konfliktkonstellationen eher verschärft und Prävention, Unterstützung und Interventionen schwerer – wenn überhaupt – zu erbringen sind. Weiterhin erscheint der Eintritt einer Wirtschaftskrise ausgesprochen wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund braucht es nicht viel Phantasie um anzunehmen, dass sich die beschriebenen Problemlagen zuspitzen und gleichzeitig noch weiter in den Hintergrund (der gesellschaftlichen Wahrnehmung) gedrängt werden.

 

Zwar finden wir in Medien und Politik ein Lob der ehrenamtlichen Unterstützung und Solidarität – nicht jedoch für die professionelle Soziale Arbeit und damit für Leistungen, die Bürgerinnen und Bürger nicht nur bekommen, weil jemand oder eine Gruppe von anderen Bürgerinnen und Bürger dies für geboten hält, sondern auf die ein Recht besteht – jedenfalls in vielen Fällen.

Neue Fragen brauchen schnelle Antworten

Die ersten Berichte aus dem sozialen Bereich bestätigen diese Befürchtungen: Viele Tafeln schließen und damit jene Einrichtungen, die jenseits professioneller Sozialer Arbeit die Ernährung von vielen hunderttausend Menschen in Deutschland unterstützen. Die Gründe zeigen zwei Dimensionen: Durch „Hamsterkäufe“ und damit den Aufkauf von Produkten auch kurz vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum erhalten sie nicht mehr genug Lebensmittel – und zudem ist die Altersstruktur der Ehrenamtlichen zu hoch und zählt damit zur potentiellen Risikogruppe.

 

Weitere Meldungen betrafen die Situation von Wohnungslosen, die Schließung von Werkstätten für behinderte Menschen, über Frauenhäuser, Flüchtlingsunterkünfte und den zu vermutenden Anstieg häuslicher Gewalt. Die Profession Sozialer Arbeit sieht sich mit einer Vielzahl von Fragen konfrontiert, welche sie relativ kurzfristig und somit unvorbereitet treffen. Es fehlt nicht nur an Schutzkleidung, sondern auch an Regeln, wie das Abstandsgebot bei Aufrechterhaltung von Beratung, Unterstützung, Prävention und Intervention in vielen Handlungsfeldern aufrechterhalten werden kann.

Auf Beziehung angewiesene Tätigkeit

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und Einrichtungsleitungen, Wohlfahrtsverbände und öffentliche Träger sahen bzw. sehen sich mit Fragen konfrontiert, die einerseits das Wohlergehen ihrer Adressatinnen und Adressaten angeht: Was geschieht mit Menschen, die irgendeine Form der Tagesbetreuung aufsuchen, sei dies aus psychischen oder anderen Gründen, wenn sie zuhause bleiben müssen? Wie kann sozialpädagogische Familienhilfe in und mit überforderten Familien arbeiten, wenn die Wohnungen nicht mehr betreten werden dürfen? Was passiert in beengten und ohnehin von Gewalt und vielleicht auch Missbrauch geprägten Verhältnissen, wenn keine Möglichkeit der Intervention oder der Entlastung mehr besteht? Wie sollen die überlasteten Frauenhäuser, die bereits „vor Corona“ viele Schutzsuchende abweisen mussten, weitere Hilfesuchende aufnehmen? Wie funktioniert Jugendhilfe, wenn eine Infektion in einer stationären Einrichtung aufgetreten ist? Bleiben dann alle – Jugendliche und Sozialarbeiterinnen in der Quarantäne? (Wie) Kann der pädagogische und therapeutisch ggf. als sinnvoll erachtete Bezug zur Herkunftsfamilie aufrechterhalten werden? (Wie) Findet Schwangerschaftskonfliktberatung statt? Was geschieht in beengten Flüchtlingsunterkünften, wenn dort eine Infektion auftritt?

 

Dies sind nur einige Beispiele aus bei weitem nicht allen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, sie könnten mühelos auch durch weitere ergänzt werden. Dabei sind die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis durchaus erfinderisch, setzen digitale Medien ein, um Kontakte zu halten und Unterstützung zu organisieren, treffen sich mit ihren Adressatinnen und Adressaten draußen und in zwei Metern Abstand oder machen Hausbesuche, wenn die notwendige Schutzkleidung vorhanden ist. Klar ist aber auch: In einer in vielen Bereichen auf Beziehung angewiesenen Tätigkeit reichen diese Ersatzkontakte wohl kaum aus und das Risiko der eigenen Infektion sowie die zusätzlichen Aufgaben im Privatbereich (z.B. Betreuung eigener Kinder) nehmen zu, da Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nicht in jedem Fall zu Beschäftigten in der „Kritischen Infrastruktur“ zählen.


Andererseits geht es dabei aber auch um die soziale Infrastruktur, die sozialen Einrichtungen und Dienste selbst. Der Paritätische Wohlfahrtsverband war der erste, der auf mögliche gravierende Folgen der Kontaktbeschränkungen für soziale Einrichtungen aufmerksam machte. Da gemeinnützige Träger kaum Rücklagen bilden dürfen, sei „das gesamte Spektrum sozialer Arbeit“ betroffen.
Inzwischen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach deutlichen Interventionen der Wohlfahrtsverbände hier eine erste Regelung angekündigt: „Soziale Dienstleister und Einrichtungen der Fürsorge in Deutschland sollen finanziell unterstützt werden, damit sie nicht in ihrem Bestand gefährdet sind.“  Zum Zuge kommt hier der Sicherstellungsauftrag für diejenigen sozialen Dienste, „die Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern und anderen Gesetzen erbringen“ unter der Voraussetzung, dass diese „auch zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie beitragen“. Damit ist eine erste Planungssicherheit erreicht, die von den Wohlfahrtsverbänden und Einrichtungen ebenso begrüßt wird, wie die im Sozialschutzpaket ebenso verankerten Erleichterungen bei der Beantragung von Unterstützungsleistungen für viele Adressatinnen und Adressaten (Sebastian Hempel: Fragen und Antworten zum Corona-Sozialschutzschirm).


Die Sicherstellung betrifft aber zum einen nur die in den Sozialgesetzbüchern verankerten Leistungen und damit eben keine sogenannten „freiwilligen“ oder die zahlreichen Modellprojekte. Und sie ist mit der Auflage verbunden, dass die Tätigkeit zur Bekämpfung der Pandemiefolgen beiträgt. Eine Klausel, die beispielsweise für Wirtschaftsunternehmen nicht besteht. Soziale Arbeit wird entsprechend nicht ohne weiteres als „systemrelevant“ erkannt, sondern muss dies erst unter Beweis stellen. Während einige Bereiche – zumindest in NRW – inzwischen der „kritischen Infrastruktur“ zugerechnet werden (Betreuung in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege, stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung), werden andere Angebotsbereiche ausgeklammert.

Soziale Arbeit ist "systemrelevant"

Ein Kollege, der bei einem gemeinnützigen sozialen Unternehmen arbeitet, das ein breites Spektrum an Unterstützungsangeboten zur Verfügung stellt, kennzeichnet die Situation so: „Kurz: Es herrscht völliges Chaos und ich bin im Dauerstress.“ Nicht nur die Träger verfolgen keine klare Linie, sondern ändern ihre Vorgaben von Tag zu Tag, sei dies in Bezug auf Arbeitsschutz oder auch die Frage, wer in Kurzarbeit geht. Neueinstellungen sind vielerorts gestoppt, nachgedacht wird auch über Kündigungen in der Probezeit. Die Unklarheiten lassen sich ebenso auf der Seite der Finanziers der sozialen Dienstleistungen feststellen. Hier werden teilweise Zuständigkeitsfragen gestellt.
Um möglichst nicht das eigene Budget zu verausgaben, wird wechselweise auf Stadt – Land – Bund verwiesen. Zwar ist klar, dass in der derzeitigen Situation vieles unklar ist und neu oder und ad hoc geregelt werden muss. Wichtig ist aber auch, dass die bestehende und zum Teil ohnehin prekäre finanzierte soziale Infrastruktur nicht in erheblichem Maße abgebaut wird.

 

Damit lässt sich etwas bitter feststellen: Während wirtschaftliche und medizinische Probleme ebenso wie die Situation der Kultureinrichtungen und die Herausforderungen für Familien bei der Planung der Krisenmaßnahmen im Blick sind, sind soziale Dienstleistungen insgesamt dies nicht. Soziale Arbeit und ihre Protagonistinnen und Protagonisten sind in der gegenwärtigen Situation keine nachgefragten Expertinnen und Experten. Im Gegenteil wurden alltägliche sozialarbeiterische Leistungen erst nach deutlichem Einspruch der (Wohlfahrts-)Verbände in staatliche Unterstützungsmaßnahmen aufgenommen. Die Angebote scheinen eher unwichtig und können entfallen, wenn es „die Lage erfordert“, was in anderen Bereichen nicht der Fall zu sein scheint.
Dies ist vielleicht auch ein Zeichen, dass Disziplin und Profession sich lange Zeit eher wenig politisch positioniert und eingemischt hat. Damit wurde auch versäumt, auf die Zusammenhänge von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung hinzuweisen bzw. diese notwendige Einheit im politischen und öffentlichen Bewusstsein stark zu machen. Gerade angesichts zu erwartender Einsparungen in der sich abzeichnenden ökonomischen Krise müssen solche Zusammenhänge laut und vernehmbar vorgetragen werden.

Wichtig scheint damit, dass die Profession und Disziplin Soziale Arbeit sich in der Gegenwart und Zukunft besser platzieren, ihre „Systemrelevanz“ und ihren Platz in der „kritischen Infrastruktur“ verdeutlicht und Ansprüche an eine Beteiligung an Krisen- oder Katastrophendiskursen fordert und auch wahrnimmt.“

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