Praxis-Forschungs-Projekt „Rechnerisch Anders“ verfolgt inklusiven Ansatz
HAWK: Was war die zentrale Motivation hinter Ihrem Projekt „Rechnerisch Anders“?
Björn Sedlak: Wir wollten einen neuen Ansatz verfolgen, um ein breiteres Verständnis für schulische Teilleistungsstörungen zu fördern. Oft werden diese als ein individuelles Defizit oder auf ein spezifisches Schulfach bezogen betrachtet, aber ihre sozialen und emotionalen Nebenfolgen für die betroffenen Kinder kaum berücksichtigt. Unsere Idee war es, am Beispiel Dyskalkulie durch Interviews mit verschiedenen Expert*innen in einer Art Konvergenz durch verschiedene Blickwinkel auch die „Hinterbühne“ zu beleuchten.
Kristin Escher: Genau, wir sprechen hier über mehr als nur Schwierigkeiten beim Rechnen. Dyskalkulie kann sich massiv auf das Selbstbewusstsein, die soziale Teilhabe und die Lebensperspektiven der betroffenen Kinder auswirken und stellt auch Umfeld und Hilfesystem vor enorme Herausforderungen. Unser Ziel war es, ein Format zu schaffen, das die Perspektiven von Fachkräften aus Schule, Jugendhilfe, Psychologie und Lerntherapie sichtbar macht und auch Betroffene selbst zur Sprache kommen lässt. Ganz klar mit dem Ziel, inklusivere Denk- und Handlungsansätze zu eröffnen.
HAWK: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen im Umgang mit Dyskalkulie?
Björn Sedlak: Eine der größten Herausforderungen ist, dass das Verständnis für Dyskalkulie stark variiert – die Dyskalkulie vielleicht sogar unterschätzt wird, wie es die leitende Psychologin an der Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche der Universität Hildesheim uns im Gespräch berichtete. Dadurch bleibt die Unterstützung für betroffene Kinder, die z. T. Ängste entwickeln, soziale Interaktionen meiden oder das Vertrauen in ihre Fähigkeiten gänzlich verlieren, oft fragmentiert. Diese Aspekte müssten in jeder ganzheitlichen Unterstützung jedoch zwingend mitgedacht werden.
Kristin Escher: Hinzu kommt der Druck im Schulsystem, denn betroffene Kinder fühlen sich schnell abgewertet, wenn ihre besonderen Bedarfe nicht erkannt werden und flexibel darauf reagiert wird - ein Gefühl, über die einzelnen Schulfächer hinaus, generell nicht gut genug zu sein, kann eine zu vermeidende Folge sein.
Unsere Ergebnisse weisen klar darauf hin, dass es für ein positives Selbsterleben weniger darum geht, „Normen“ durchzusetzen, als vielmehr Wege zu finden, wie Kinder in ihrer Individualität der Bedarfslagen unterstützt werden können. Dabei spielen neben Lehrenden und anderen Fachkräften wie Lerntherapeut*innen auch die Eltern eine besondere Rolle, die alle einen Beitrag für das Empowerment betroffener Kinder leisten können.
HAWK: Ein Highlight des Projekts „Rechnerisch Anders“ sind die drei Filmbeiträge, die entstanden sind. Was zeichnet die Filme aus?
Björn Sedlak: Die Filme behandeln jeweils unterschiedliche Aspekte: Der erste Film ist als Interviewdokumentation konzipiert. Die von uns befragten Expert*innen beleuchten aus ihrer professionellen Perspektive grundlegende Fragen zu Dyskalkulie. Es geht um Möglichkeiten und Grenzen bei der Erkennung und Diagnose von Teilleistungsstörungen. Ebenso werden Potenziale von sog. Nachteilsausgleichen am Lernort Schule oder auch die Ziele und Erfolge von Lerntherapie als außerschulische Förderung kritisch ausgelotet sowie die Rolle der Jugendhilfe aus Sicht einer Jugendamtsmitarbeiterin der Stadt Hildesheim in diesen Kontexten reflektiert.
Kristin Escher: Im Zentrum des zweiten Films stehen zwei mittlerweile erwachsene junge Frauen, die an der HAWK studiert haben. Sie geben biografische Einblicke und zeigen eindrücklich, was es heißt „betroffen zu sein“. Dabei sprechen sie rückblickend über persönliche Erfahrungen und ihr jeweiliges Erleben der eigenen schulischen Teilleistungsstörung, aber auch was sie gestärkt hat und was sie sich für betroffene Kinder aus ihrer heutigen Sicht wünschen würden. Beim dritten Film, an dessen Umsetzung unser Projektmitarbeiter Ben Ambrosio von der Fakultät Gestaltung maßgeblich beteiligt war, wird der Fokus verstärkt auf die Rolle von Eltern und auf die Bedeutung sozialer Unterstützungsnetzwerke gelegt.
HAWK: Können Sie Beispiele nennen, wie Ihr Projekt konkret zu Veränderungen und Verbesserung beiträgt?
Kristin Escher: Durch die Filmreihe zeigen wir, was es bedeutet, mit Dyskalkulie zu leben. Beispielsweise thematisieren wir die Ängste von Kindern und die Hilflosigkeit von Eltern. Ein Vater erzählte uns, wie sein Kind aufgrund der ständigen nicht schuldhaften Misserfolge zunehmend frustriert und in der gesamten Persönlichkeit unsicher wurde. Solche Geschichten sensibilisieren nicht nur Lehrkräfte, sondern auch die Öffentlichkeit.
Björn Sedlak: Ein weiterer Aspekt ist die Reflexion über professionelles Handeln. Wir haben festgestellt, dass Haltungen und Normen, die Fachkräfte unbewusst mitbringen, einen großen Einfluss auf den Umgang mit betroffenen Kindern haben. Unser Ziel ist es, diese Haltung zu hinterfragen und inklusivere Denkweisen zu fördern. Und hier sehen wir auch wirklich engagierte Schulen und Lehrkräfte, Lerntherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen und Eltern, die in einer Allianz - gewissermaßen durch eine „Pädagogik durch die Hintertür“ - Kinder wirklich stark und nachhaltig empowern. Dies alles zeigt, es geht, ist der Wille vorhanden.
HAWK: Welche Erkenntnisse können aus dem Projekt abgeleitet werden?
Björn Sedlak: Eine der wichtigsten Erkenntnisse war, dass Inklusion keine Einbahnstraße ist. Erforderlich sind ständiger Dialog und die Bereitschaft, sich offen auseinanderzusetzen. Wir haben auch gesehen, wie wichtig es ist, dass sich Fachkräfte selbst weiterbilden und austauschen. Nur so können sie die Komplexität von Dyskalkulie und ihren Nebenfolgen wirklich verstehen und integrativ handeln.
Kristin Escher: Wir sprechen in diesem Zusammenhang zudem von der Bedeutung positiver Erlebnisse. Kinder, die trotz Dyskalkulie Erfolge erleben, entwickeln ein viel stärkeres Selbstbewusstsein und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Das sollte ein zentrales Ziel aller Akteur*innen sein.
HAWK: An wen richtet sich das Projekt mit den daraus entstanden Filmbeiträge?
Kristin Escher: Unsere Vision ist, dass diese Filme als Ausgangspunkt für Diskussionen genutzt werden. Sie sind ein Werkzeug und können auch in Hochschulen als Lehr-Lern-Videos oder für Fortbildungszwecke genutzt werden, um für das Thema zu sensibilisieren. Aber auch um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und Lösungen zu entwickeln – immer im Sinne der Betroffenen. Die Filme sind abrufbar unter: www.hawk.de/de/studium/projekte/rechnerisch-anders
Björn Sedlak: Gleichzeitig wollen wir den Dialog zwischen Schule, Familie und Jugendhilfe stärken. Nur wenn verschiedene Akteur*innen an einem Strang ziehen, kann sich im Sinne der Betroffenen nachhaltig etwas bewegen.
Wir danken herzlich allen Beteiligten für ihre Bereitschaft, sich einzubringen und den offenen Diskurs – insbesondere dem Jugendamt Hildesheim, der Hochschulambulanz KIM der Universität Hildesheim, den beteiligten Schulen und Lehrkräften sowie allen Expert*innen und Betroffenen, die namentlich ungenannt blieben oder im Film nicht gezeigt wurden.
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