Nach dem Abschluss im Studiengang BA Soziale Arbeit in Hildesheim arbeitet er in einer vollstationären Drogenhilfeeinrichtung.
Zu sehen, dass Menschen einem vertrauen und sich ernst genommen fühlen, ist ein großes Kompliment.
Wie bist du zu dem Studium der Sozialen Arbeit gekommen?
Einerseits durch meine Familie. Mein Vater hat bis zu seiner Rente letzten Jahres eine vollstationäre Einrichtung für chronisch alkoholerkrankte Menschen geleitet, meine Mutter ist Psychiatriekrankenschwester und arbeitet inzwischen auch dort. Der Kontakt zu Menschen in vulnerablen Lebenssituationen war also irgendwie immer da, weil ich als Kind schon viel Zeit dort verbracht habe.
Durch den familiären und menschlichen Umgang innerhalb der Einrichtung wurde da sicherlich der Grundstein gelegt, um mal Sozialarbeiter zu werden. Den Gedanken ernsthaft gefasst habe ich glaube ich während meines Bundesfreiwilligendienst in einer sozialpsychiatrischen Tagesstätte 2016. Da habe ich nämlich gemerkt, wie leicht mir der Aufbau von Beziehungen fällt und wie geil es ist, aus einer positiv gestalteten Beziehung heraus Dinge zu versuchen, unabhängig von deren Ausgang.
Das ganze Jahr in der Einrichtung war grundlegend für meinen Weg, mir wurde vertraut und ich habe extrem viel gelernt. Ich war 20 und hatte echt viel Quatsch im Kopf, das war wirklich nicht selbstverständlich. Ich weiß, viele Einrichtungen sehen FSJler (und Anerkennungspraktikant*innen) als günstige Arbeitskräfte und daher können/werden die Erfahrungen variieren.
Die grundsätzliche Idee, in einem Bereich Eindrücke zu sammeln, ein Gefühl für die Menschen und sich selbst in der Arbeit im Unterstützungssystem zu bekommen, ohne dabei die Verantwortung zu tragen, ist eine super Sache. Sofern sie denn auch wie angedacht umgesetzt wird. Naja und anschließend habe ich noch hier und da gearbeitet, dann drei Semester Heilpädagogik studiert, ehe ich im April 2020 das Sozialarbeitsstudium an der HAWK angefangen habe (:
Welche Rolle spielte das Studium an der HAWK Hildesheim für dich?
Ich habe echt keine Lust auf die Pandemieschiene, aber die Hochschule das erste Mal von innen gesehen habe ich glaube ich im dritten Semester und das auch nur vereinzelt und unter diversen Auflagen. Das studentische Leben fiel damit also weg.
Wir konnten die Zeit glücklicher Weise in einer großen WG kompensieren, ansonsten wäre soziale Isolation vermutlich ein noch größeres Thema geworden. Zum vor Ort Studium kann ich dementsprechend recht wenig sagen.
Unabhängig davon habe ich hier gerne studiert. Die Lehrenden sind immer am Start gewesen, gucken auch nach links und rechts und unterstützen Studierende. Man konnte vernunftbasiert miteinander sprechen, was ich sehr zu schätzen weiß. Generell fühlte es sich trotz der Situation nach einem Miteinander an. Wäre Hildesheim nicht so weit weg, hätte ich auch liebend gerne an der HAWK einen Master gemacht.
Von welchen Studien-Inhalten profitierst du im Berufsalltag?
Ich nenne zunächst die unschöne Wahrheit. Daher muss ich sagen, es sind die rechtlichen Grundlagen, spezifisch das Existenzsicherungsrecht. Sich in den SGBs etwas auszukennen macht die Praxis zugänglicher und leichter, so sehr wir materialistischen Sozialarbeitenden uns auch gegen diese Ausgestaltung des Sozialstaats wehren, ist sie ja nun Mal die Wirklichkeit.
Und die Hilfen für Menschen sind genau davon abhängig. Ich profitiere definitiv auch von der systemischen Sichtweise, Verhalten auf einer Beziehungsebene und nicht als rein intrapsychischen Vorgang zu begreifen. Ich mag generell alles, was Menschen Handlungsspielräume eröffnet - dafür sind systemische, zu einer Lösung orientierten Denkweisen, sehr hilfreich.
Wie würdest du deinen (beruflichen-) Weg bis heute beschreiben? Wie war dein beruflicher Start?
Den Weg vor dem Studium habe ich bereits etwas umschrieben, während des Studiums habe ich in einer Suchthilfeeinrichtung auf 520 Euro Basis gearbeitet und das letzte Jahr des Studiums darüber hinaus in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung für geflüchtete Menschen. Ehe ich im Mai 2023 mein Anerkennungspraktikum in einer vollstationären Einrichtung für drogen- und alkoholerkrankte Menschen angefangen habe.
Ich würde jetzt mal den Beginn des Anerkennungsjahres als richtigen beruflichen Start bezeichnen, weil dies meine erste Tätigkeit als studierter Sozialarbeiter ist. Und naja, der Start war mehr oder weniger endgültig desillusionierend, was unsere Wirklichkeit anbelangt.
Die Arbeit an sich ist super, der Kontakt und die gemeinsame Gestaltung der Hilfeleistungen und des Alltags, mit allem was dazugehört. Dass ich das gut kann und gerne mache, war mir aber auch vorher klar. Wenn aber die prekäre Lage im Sozialsystem auf einmal wirklich ernsthaft die Realität- und Perspektive deines Berufs ist, ja dann guckt man erstmal blöd aus der Wäsche.
Als Student, auch wenn ich bereits gearbeitet habe und gerade bei meinen Eltern in der Einrichtung viel mitbekommen habe, ist das alles einfach noch nicht so greifbar. Dann wurden Unterbesetzung, fundamentale Gesetzesänderungen (im meinen Fall in der Eingliederungshilfe) und die wechselseitig daraus resultierenden bescheidenen Arbeitsbedingungen aber plötzlich zu meiner Wirklichkeit. Und ich musste und muss zusehen, mich innerhalb dieses Systems zu positionieren und herausfinden, wie ich damit umgehen möchte.
Wichtig ist mir zu sagen, dass diese negativen Erfahrungen, die wir früher oder später in der Praxis alle machen, keinem Naturgesetz folgen. Das hat System, das Verständnis Sozialer Arbeit sollte über individualisierte Hilfen hinausgehen.
Wir müssen uns auch gegen eine inhumane Ausgestaltung der Politik richten, sowohl im Sinne der Disziplin als auch im Sinne der Menschen, mit denen wir tagtäglich arbeiten. Neben dieser politischen Dimension, die ich einfach nicht unerwähnt lassen kann und möchte, macht mir die Arbeit große Freude. Vollstationäre Arbeit ist schon krass, weil man ja da arbeitet, wo Menschen leben. Kling erstmal banal, aber ich arbeite in einer Einrichtung außerhalb Hamburgs, dort leben 150 Menschen auf einem riesengroßen Gelände mitten im Wald und hier spielt sich fast ihr ganzes Leben ab.
In diesem System seinen Platz zu finden und sich in dieser besonderen Rolle als Anerkennungspraktikant zu akklimatisieren war eine spannende Aufgabe, an der ich echt gewachsen bin.
Was sind herausfordernde Situationen und wie meisterst du diese?
Was die Arbeit bei uns in einer vollstationären Drogenhilfeeinrichtung herausfordernd macht ist, dass man eigentlich den ganzen Tag (meist unterbewusst) Gefahren abschätzt. Darüber denkt man jetzt nicht ständig aktiv nach, aber dort leben Menschen mit komorbiden seelischen Störungen in mitunter vulnerablen Lebenssituationen mit sehr instabiler Abstinenz.
Das heißt in unserem Haus leben 42 Menschen, von denen ein Teil täglich (über-)konsumiert, ein Teil sehr paranoides und psychotisches Verhalten zeigt, ein anderer Teil massive Impulskontrollstörungen an den Tag legt, dann kann ein Zusammenleben auch mal Konflikte beinhalten.
Darüber hinaus haben wir auch regelmäßige RTW Einsätze durch beispielsweise Überdosierungen bzw. deren Folgen. Dem ganzen kann man eigentlich nur begegnen, wenn man dem täglichen Geschehen ruhig und mit Humor entgegentritt und trotzdem aufmerksam und in den wichtigen Situationen handlungsentschlossen ist. Das klappt natürlich nicht immer, Menschen fühlen sich an manchen Tagen besser oder schlechter, aber grundsätzlich ist das so die Richtung, würde ich sagen.
Ich glaube auch, dass es wichtig ist, sich im Team auszutauschen. Das ist keine hohle Phrase, nur so kann man herausfinden, wie man bestimmten Situationen begegnen könnte, wie vielleicht andere Situationen nicht eskalieren, wo man vielleicht blinde Flecken hat, was einem aber auch sehr gut gelingt. Das ist ein durchgehender Lernprozess, indem man sukzessive Handlungssicherheit gewinnt :)
Was gibt dir die Arbeit in deinem Bereich zurück?
Die Arbeit im Team, die das Leben alle nicht zu ernst nehmen. Dieser Humor als eine Grundtugend des psychiatrischen Arbeitens ist wirklich schön. Außerdem ist die Arbeit wirklich sehr selten langweilig, und wenn, denn ist es eine willkommene Abwechslung.
Es ist jeden Tag auf irgendeine Art und Weise Action oder es passiert irgendwas vollkommen Absurdes. Die Arbeit hat etwas Belebendes, auch wenn es häufig anstrengt, gibt sie mitunter auch eine ganze Menge Kraft. Ich könnte nicht ohne die Beziehungsarbeit mit den Menschen, es gibt immer wieder unbeschreiblich schöne, warme Momente, die man jetzt gar nicht so genau beschreiben kann.
Zu sehen, dass Menschen einem vertrauen und sich ernst genommen fühlen, ist ein großes Kompliment.
Wie erkenne ich, dass die Soziale Arbeit etwas für mich ist?
Ich denke, da gibt es mehr oder weniger zwei Zugänge. Einerseits: Man nimmt eine (diffuse) Ungerechtigkeit in der Gesellschaft/Welt wahr. Egal wie (un-)differenziert das Verständnis dieser Gesellschaft ist, entsteht aus dieser Wahrnehmung vermutlich bei vielen der Drang, etwas dagegen zu tun.
Soziale Arbeit hat die schöne Eigenheit, eine wissenschaftliche Disziplin mit äußerst praktischer Wirklichkeit zu sein, weshalb sie eine logische Schlussfolgerung sein könnte. Die meisten werden also wahrgenommen haben, dass es einigen Menschen hier „schlecht“ geht und sie Formen der Hilfe benötigen. Andererseits: Hier steht wohl die Frage, wie man auf andere zugeht, was für ein Gefühl man für Menschen und im Kontakt mit ihnen hat.
Pädagogik bedeutet mit Menschen gemeinsam die von ihnen gewünschten Veränderungen initiieren, dafür braucht man schon etwas Freude und Feingefühl im Miteinander. Natürlich erlernt man die wichtigen Methoden und Techniken im Studium, vertieft auch das Menschenbild der Disziplin, aber so ein ungefähres Gefühl im Umgang ist eigentlich unersetzlich. Ich behaupte mal, wenn man Beschriebenes ganz grob zusammenbringt, könnte Soziale Arbeit durchaus etwas für einen sein.
Was sind drei Kernkompetenzen die ich mitbringen sollte?
Offenheit, Abgrenzungsfähigkeit, Humor.
Würdest du sagen, dass man von Sozialer Arbeit gut leben kann?
Vom Entgelt des Anerkennungspraktikums eher schwierig, darüber hinaus sieht es gar nicht so übel aus. Wir haben natürlich wie alle anderen klassisch lohnabhängig Beschäftigten ebenso mit den steigenden Lebenserhaltungskosten zu kämpfen.
Ich habe gerade den Eindruck, dass viele Einrichtungen und Unternehmen ihre Gehälter an den öffentlichen Tarif anpassen, was zumindest aus finanzieller Sicht ja eine vernünftige Sache ist. Wie gut man dann davon leben kann ist natürlich unterschiedlich, je nach Interessen und Bedürfnissen, ob man Kinder hat, einen (Studien-)Kredit abzahlen muss, lebt man alleine, etc.
Alles in allem ist es aber schon in Ordnung, würde ich sagen.
Könntest du dir vorstellen den Bereich innerhalb der Sozialen Arbeit noch einmal zu wechseln?
Ich denke schon manchmal darüber nach, schließlich bin ich erst 27. Richtig vorstellen kann ich es mir aber irgendwie nicht.
Was ist Soziale Arbeit für dich? Vielleicht eher: Was bedeutet Soziale Arbeit für dich?
Soziale Arbeit wurzelt in der materialistischen Weltanschauung. Dementsprechend bedeutet sie für mich, sich den Widersprüchen des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu stellen, diese zu benennen und für eine strukturelle Veränderung der Produktionsweise einzustehen.
Soziale Arbeit basiert für mich eben auf jener Erkenntnis des historischen Materialismus, dass die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft Waren und Dienstleistungen produziert und ausgetauscht werden, dieser Gesellschaft ihre Hierarchie verleiht und sie in Klassen teilt.
Wollen wir also diese Gesellschaft verändern, und ich denke, das wollen eigentlich fast alle Sozialarbeitenden, müssen wir uns daranmachen, die Produktionsweise zu verändern. Denn wie Reichtum und Wohlstand ist auch das tägliche Elend, die Angst, die Ausgrenzung der Menschen, mit denen wir täglich arbeiten, dem Kapitalismus immanent.
Außerdem bedeutet Soziale Arbeit für mich den Glauben an jeden Einzelnen, egal wie aussichtslos und hoffnungslos alles aussehen mag. Ich sehe Soziale Arbeit als ein wissenschaftliches System, Menschen ganzheitlich verstehen zu wollen und sie bestmöglich zu unterstützen, prekäre Lebenssituationen zu überwinden. Individuell und kollektiv!
Lukas Heit
Studiengang: BA Soziale Arbeit Hildesheim
Abschlussjahrgang: 2023
Aktueller Arbeitsbereich: Vollstationäre Drogenhilfeeinrichtung
Das Interview entstand im Rahmen des Studierendenprojekts "Berufliche Wege in die Soziale Arbeit" im Wintersemester 2023/24.