Einer der 22 spricht fließend Polnisch. Das hilft in Russland schon weiter. Alle können nach einem Intensivkursus vor der Reise ein kleines bisschen Russisch. Damit kann man sich durchschlagen. Aber wie sollten sie fachlich-technische Diskussionen führen? Internationalisierung ist nur ein Wort. Tatsächlich hinfahren zum Arbeiten und Lernen ist ein Wagnis und durchaus abenteuerlich. Aber die Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse sind unbezahlbar. Deshalb schätzt HAWK-Präsident Prof. Dr. Martin Thren den Mumm seiner 22 Studierenden der Fakultät Bauwesen ganz ungemein hoch ein, die für zwei Wochen zum Workshop an die russische Bauuniversität Rostov am Don gefahren sind. Aber ebenso wichtig ist ihm, den persönlichen Einsatz der betreuenden Professoren Jens Kickler und Nikolaus Nebgen zu würdigen. Denn Standard-Lehre ist das keinesfalls, was die beiden ihren Zöglingen gemeinsam bieten. Kickler lehrt am HAWK-Standort Holzminden, Nebgen in Hildesheim.
Seit immerhin 15 Jahren besteht die Partnerschaft zwischen der Bauuniversität Rostov am Don und der HAWK und sie hat stets einen außerordentlich temperamentvollen Motor gehabt: Prof. Dr. e.h. Burkhard Bretschneider, der den papiernen Vertrag mit Leben füllte. Der heute 73-Jährige ist seit acht Jahren in Pension und hat das „Hauptgeschäft“ jetzt in die Hände von Jens Kickler gegeben. Dennoch war er bei dieser Reise mit von der Partie. Denn der Studierenden-Workshop war auch der Anlass, die Erweiterung des Partnerschaftsvertrages mit der Bauuniversität zu unterzeichnen. Dies oblag natürlich HAWK-Präsident Thren, der die russische Gastfreundschaft zum ersten Mal erleben durfte. „Ich war überwältigt von der Intensität, mit der diese Menschen auf uns zu gekommen sind“, sagt er begeistert.
Die offene Unkompliziertheit war es denn auch, die den Studierenden alle Sorgen nahm. Dass viele der ebenfalls rund 20 russischen Kommilitonen, die an dem Workshop teilnahmen, denn doch recht gut Deutsch sprachen, tat das Seinige in Sachen Kontaktaufnahme – in vielerlei Hinsicht.
Im Rahmen des Workshops hatten die angehenden Ingenieure die Aufgabe, gemeinsam in gemischten Arbeitsgruppen ein Konzept für die Restaurierung der russischen „Kirche des Theologen Johannes“ vor den Toren Rostovs zu entwickeln. „Bei solch einem Projekt prallen komplett unterschiedliche Erfahrungswelten und ideelle Leitlinien aufeinander“, beschreibt Jens Kickler den nicht ganz einfachen Weg, sich zu gemeinsamen Lösungen durchzukämpfen. So wollten die russischen Teilnehmer gern glänzende Zwiebeltürme einplanen, obwohl im ursprünglichen Zustand der Kirche gar keine vorhanden waren. Eine originalgetreue Wiederherstellung oder eine am kirchlichen Zeitgeist orientierte, das war die Frage. Man rang sich nach vielen fachlichen Diskussionen zur wahrscheinlichen Originalform ohne Zwiebeltürme durch.
Bemerkenswert sei auch die moderne didaktische Methodik des Workshops gewesen, hebt Präsident Thren hervor: „Die Studierenden sind die Akteure, die Lehrenden sind Moderatoren des Prozesses – ein offenes, problemorientiertes Vorgehen.“ Prof. Nikolaus Nebgen ist sich sicher, dass die Ergebnisse der Arbeitsgruppen durchaus Chancen auf Realisierung haben: „In Russland wird derzeit viel Geld für die Restaurierung von Kirchen ausgegeben.“
Vielleicht entdecken einige der angehenden Ingenieure nach diesem deutsch-russischen Austausch ihr Herz und ihren Fleiß für das riesige Land im Osten. „Dort ist die deutsche Ausbildung sehr gefragt. Unsere Ingenieure und Architekten haben die besten Chancen auf einen attraktiven Job, wenn sie russisch sprechen und Erfahrungen mit den Gepflogenheiten im Land haben“, weiß Kickler. Deshalb – und davon handelt auch die unterzeichnete Erweiterung des Kooperationsvertrages – wollen die HAWK und die Bauuniversität Rostov künftig einen gemeinsamen Doppel-Master-Studiengang und –Abschluss anbieten. Wobei ein Studiensemester im jeweils anderen Land verbracht werden muss. Darüber hinaus ist ein gemeinsames Doktorat-Programm geplant. Die sprachlichen Kompetenzen sollen die Studierenden der HAWK-Baufakultät in Kooperation mit der Universität Hildesheim und deren Master-Studiengang „Internationale Fachkommunikation – Sprachen und Technik“ bekommen. „Wir wollen den Austausch weiter intensivieren. Russland ist ein Zukunftsmarkt“, betont Präsident Thren, der nur vier Tage in Rostov bleiben konnte.
Für das kommende Jahr wird eine Studierendengruppe an der HAWK erwartet. Auch in diesen Wochen sind schon sechs junge Leute aus Rostov im Rahmen eines von Bretschneider organisierten dreimonatigen Praktikumsprogrammes in Deutschland. So hat die Sparkasse Hildesheim zum wiederholten Mal einen Studenten der Immobilienwirtschaft eingestellt. Immerhin 2000 Euro muss das Unternehmen aufbringen, um sich an dem Programm zu beteiligen. Die anderen russischen Studenten sind bei der Züblin AG in Chemnitz, bei der Firma Rehau in Erlangen oder bei Leonhard Weiss in Crailsheim untergebracht.
Burkhard Bretschneider betreut alle persönlich, zeigt ihnen immer zu allererst den Hildesheimer Marktplatz. Und da kann es schon sein, dass der ein oder andere Passant auf die kleine Gruppe aufmerksam wird. Bretschneider stellt seine Stadt nämlich mit der ihm eigenen voluminösen Stimme vor. Und wer die gegenwärtigt, möchte gleich das unsichtbare Band nach Russland deutlich vor sich sehen: Die Region um Rostov am Don ist nämlich die Heimat der Don Kosaken, die schon im 15 . Jahrhundert als Wehrbauern Widerstand gegen die Tartaren leisteten und heute durch ihre Lieder weltberühmt geworden sind.