HAWK-Studierende entwerfen Szenarien für erweiterte Kirchennutzung
Wissenschaftliche Untersuchungen gehen von einem möglichen Mitgliederschwund von rund 50 Prozent bis zum Jahre 2060 aus. Kirchliche Strukturen, Gemeindegrößen, und Gebäudebestände stehen daher für viele Kirchengemeinden in absehbarer Zeit auf dem Prüfstand. Die Martin-Luther-Kirche in Bad Salzdetfurth ist bereits jetzt betroffen: Sie wird nur noch selten für Gottesdienste genutzt.
Vor über 70 Jahren stellte sich die Situation noch völlig anders dar: Mit dem Ausbau der Kaliindustrie kamen aus allen Teilen Deutschlands immer mehr Menschen nach Bad Salzdetfurth. Ein neuer Stadtteil auf dem Dörenberg wurde errichtet. Mit der Grundsteinlegung für den Bau der Martin-Luther-Kirche im Jahre 1952 schuf die Kirchengemeinde dort einen Ankerpunkt, noch bevor die ersten Wohnhäuser errichtet wurden. Ein mächtiger, weithin sichtbarer Kirchturm prägte fortan das Stadtbild. Doch bereits in den 1970er Jahren erlebte die Gemeinde einen ersten markanten Bevölkerungsrückgang durch den Einbruch der Kaliindustrie.
Inzwischen wird die Martin-Luther-Kirche immer seltener genutzt, ausgenommen die ehrenamtlich betriebene Kleiderkammer, die sich im Dachgeschoss des Gemeindehausflügels befindet und sehr gut angenommen wird.
Die Fakultät Bauen und Erhalten an der HAWK am Standort Hildesheim setzt sich im Masterstudiengang Architektur im eigens eingerichteten Hauptfach „Bauen im Bestand / Baudenkmalpflege“ immer wieder mit der erweiterten Nutzung von Gotteshäusern auseinander. Der Austausch hat dem Amt für Bau- und Kunstpflege der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, hier vertreten durch Amtsleiter Ulrich Bartels, nicht nur interessante Ideen durch die Hochschule geboten, sondern auch den ein oder anderen amtlichen Nachwuchs generiert, das heißt, HAWK-Absolvent*innen sind sogar dort beschäftigt. „Nicht nur die Silhouetten der Kirchen bestimmen unsere Städte und Dörfer, sondern auch ihre Eigenschaften als verlässliche Orte sinngebender Spiritualität“, sagt Birgit Franz, Professorin an der Fakultät Bauen und Erhalten. Sie setzt sich für einen Teilverbleib von Sakralräumlichkeit in den Gotteshäusern für aus der Nutzung fallende Kirchen ein. „Das kann ein von außen zugänglicher Andachtsraum im Chor, im Turm oder auch in der einstigen Sakristei sein.“
Die Vorschläge der Studierenden, erarbeitet im vergangenen Wintersemester, zeigen vielfältige Neunutzungsmöglichkeiten auf:
Gemeinwohlorientierung und Sozialraum sind für die Masterstudierenden Johann Griem und Tatjana Szymanowski das Leitmotiv, auf dessen Basis sie sich mit gemeinschaftlichen Wohnformen in der Martin-Luther-Kirche auseinandersetzten.
Birte Holtmann erarbeitete in ihrer Lösung die Integration eines Frauenhauses, die dadurch die ureigene Aufgabe der Kirche fortgeschrieben sieht, Menschen Schutz und Hilfe angedeihen zu lassen. Im Kontext der in Bad Salzdetfurth bestehenden Kur-, Reha- und Wellnessangebote entwickelte Claire Bethmann das Konzept für ein Burnout-Zentrum mit christlichem Fundament. Und für Kai Rogge und Jannes Rosenberg stehen die touristischen Angebote vor Ort Pate für ihre Idee außergewöhnlicher Beherbergung: Sie konzipierten eine „BikeCamp-Kirche“ sowie eine Übernachtungskirche. Den sportiven Ansatz kürt Maike Lichatz mit einer Kletterkirche mit weiterhin für Gottesdienste nutzbarem Kirchenschiff.
Die Auseinandersetzung mit Gotteshäusern ist für angehende Architekt*innen eine immense Herausforderung, da der Respekt vor der Institution Kirche hemmt, Veränderungen anzugehen und sichtbar zu machen. Sonja Tinney, Architektin und seit fünf Jahren Lehrbeauftragte an der HAWK, sieht die kirchlichen und die weltlichen Gemeinden gefordert, sich gemeinsam und vor allem frühzeitig genug für erweiterte Nutzung einzusetzen: „Es ist wichtig, dass sich auch Kommunen damit befassen, und zwar bevor zweckspezifische Neubauten geschaffen werden, ob nicht eine in der Weiternutzung bedrohte Kirche diese Nutzungen künftig beherbergen kann.“ Und ein weiteres Anliegen der drei Dozent*innen bringt HAWK-Professor Matthias Pätzold auf den Punkt. „Wir werden nach neusten Gesetzgebungen mehr oder weniger ab sofort die Energiethematik mutiger und kreativer auch im Kontext von Gotteshäusern denken müssen.“
Eine Einführung in die Ausstellung durch die HAWK-Studierenden findet am 15. Februar 2023 um 16.00 Uhr bis ca. 18.00 Uhr in der Martin-Luther-Kirche statt. Darüber hinaus kann die Ausstellung der HAWK-Studierenden vor Ort am 19. Februar 2023 von 16:00 bis 17:00 Uhr besichtigt werden. Am 26. Februar 2023 ist im Anschluss an den Hauptgottesdienst in der Martin-Luther-Kirche, ab 10:50 Uhr Gelegenheit, die Ausstellung bis 12.00 Uhr zu besichtigen.
Zusätzlich ist eine digitale Ausstellung ab dem 16. Februar 2023 unter folgender Adresse abrufbar: https://www.behance.net/perspektiven