Das Kompetenzfeld Digitale Medien heißt jetzt Digital Environments
Die Bezeichnung „Digitale Medien“ wurde einst als qualitative Unterscheidung zu den analogen Medien eingeführt, zunächst in der Betonung einer veränderten Werkzeugqualität und dann zunehmend auch als fruchtbarer Quell neuer Kulturtechniken. Inzwischen gibt es aber kaum noch einen Bereich, der ohne digitale Medien auskommt. Heute ist fast alles „smart“: Nicht nur das Telefon, sondern das ganze Büro, das Zuhause, der Garten, die Städte. In naher Zukunft haben wir vielleicht nicht an jeder Milchkanne Internet, aber es ist abzusehen, dass wir in einer digital transformierten Gesellschaft leben werden.
Die Unterscheidung von analog und digital ist dann nicht mehr sinnvoll, die Bezeichnung „Digitale Medien“ wird im Sinne einer Qualitätsbeschreibung zum Pleonasmus, begibt sich in die Gesellschaft der runden Kugeln, alten Greise und toten Leichen.
Wenn wir an einer Hochschule mit Begriffen arbeiten, die sich nur noch historisch erklären lassen, aber die Lebenswirklichkeit nicht abbilden, dann sind wir auch nicht in der Lage, aktuelle Aufgabenstellungen und Problemlösungen zu formulieren. Aus diesem Grund soll auch unser Kompetenzfeld einen Namen führen, der nicht aus einer sprachlichen Gewohnheit heraus existiert, obwohl er nutzlos ist, um zu beschreiben, womit wir uns auseinandersetzen – mit der Gestaltung unseres digitalen Lebens, das eben nicht nur in grauen Kisten auf dem Schreibtisch stattfindet. Unser gesamter Lebens- und Schaffensraum ist digital durchdrungen und geprägt. Digitalisierung ist kein Projekt der Zukunft, sondern Gegenwart.
Was ist mit Environment gemeint?
Wenn unser gesamter Lebens- und Schaffensraum digital durchdrungen ist, stößt die von McLuhan geprägte Metapher des Mediums als Körperextension an ihre Grenzen. Wir ergänzen ja nicht uns, sondern die uns umgebende Ganzheit – damit meine ich alles, was unsere physische und psychische Existenz betrifft. Die Art, wie wir kommunizieren, produzieren, konsumieren, lernen, verreisen, uns erinnern oder verlieben, unterliegt mit der Digitalisierung einem Paradigmenwechsel, dem der Begriff „Medien“ nicht gerecht wird, weil er nicht das Zusammenspiel aller Elemente fasst. Digitale Produkte und Services erweitern nicht nur unsere Körper – im Sinne eines Werkzeug-Organs –, sondern organisieren unsere wirtschaftlichen, institutionellen und sozialen Strukturen. Sie bilden ein digitales Environment, das als Teil unserer Welt neue Formen der Kommunikation, Interaktion und Narration hervorbringt und somit einen Raum für neue Erfahrungen und Erkenntnisse formt. Dieser Raum bildet eine uns umgebende digitale Sphäre – eben ein digitales Environment.
Erlaubt sei ein Ausflug in die Begriffsgeschichte des Environments. Der Begriff wurde durch Thomas Carlyle Anfang des 19. Jahrhunderts zu Beginn der Industrialisierung und den damit verbundenen sozialen Umbrüchen in England geprägt. Für die Übersetzung eines Goethe-Textes versuchte Carlyle die Bedeutung des Wortes „Umgebung“ so zu erweitern, dass es inhaltlich auch die gesellschaftlichen Konditionen implizierte, in denen ein Individuum lebt und sich entwickelt. Da „Surrounding“ dies nicht leistete, griff er auf den Begriff „Environment“ zurück. In diesem Sinne wurde dieser auch von Charles Darwin verwendet. Der Biologe Jakob von Uexküll brachte Environment Anfang des 20. Jahrhunderts als Umwelt mit seinem Buch „Umwelt und Innenwelt der Tiere“ zurück in den deutschen Sprachraum. Aber erst 1972 bekam die Umwelt beziehungsweise das Environment mit der von der Apollo 17 gemachten Fotografie der Erde – als „Blue Marble“ bekannt – ein Symbol und damit eine politische und gesellschaftliche Dimension. Es hat also gut 150 Jahre gedauert, bis das Environment als gestaltbarer und damit verletzlicher Resonanzkörper der Wechselwirkung von Menschen und Erde begriffen wurde.
Die Bezeichnung „Digital Environment“ formuliert also die Kausalität des Verhältnisses vom Menschen zu seiner selbst geschaffenen digitalen Welt, die als immaterielle Sphäre unser kulturelles, soziales, politisches und ökonomisches Handeln maßgeblich bestimmt. Diese Dimension hat die Bezeichnung „Digitale Medien“ nicht.
Der Bezug zu Design
Der Erfolg des Designs im 20. Jahrhunderts besteht ja darin, dass es die Industrialisierung unter der Prämisse der funktionalen und formalen beziehungsweise sinnlichen Bedürfnisse des Menschen gedacht hat. Einhundert Jahre nach dem Bauhaus müssen sich Designerinnen und Designer fragen, wie wir unser digital geprägtes Leben als Symbiose mit dem Unsichtbaren gestalten wollen. Die Designerinnen und Designer sind es, die dem immateriellen, digitalen Environment durch Gestaltung Ausdruck verleihen, es erst wahrnehmbar, erlebbar und benutzbar machen und ihm damit zu einer kulturellen Dimension verhelfen, die es ohne unsere Arbeit nicht geben würde. Damit furchtbar komplizierte Menschen mit furchtbar komplizierten Maschinen ohne telefonbuchdicke Bedienungsanleitungen kommunizieren können, bedarf es sehr guter Gestaltung. Wir Gestalterinnen und Gestalter sind es aber auch, die mit ihrer Arbeit eine Ethik und Haltung im Umgang mit den neuen Gegebenheiten formulieren müssen – und das unter Berücksichtigung aller sozialen, ökonomischen und auch ökologischen Implikationen. So wie man heute kein Produkt entwickeln kann, ohne sich über Aspekte der Nachhaltigkeit, Langlebigkeit, der ökologischen und sozialen Verträglichkeit und so weiter Gedanken zu machen, so ist es an der Zeit, ähnliche Maßstäbe für die Gestaltung digitaler Applikationen zu formulieren.
Fair-Trade-Apps mit Öko-Siegel?
Die Arbeitsbedingungen des globalen Pixelproletariats haben teilweise frühkapitalistische Zustände, mit Arbeitszeiten und Löhnen, die an Ausbeutung grenzen. Es gibt aber genauso auch absurde Gegenbeispiele. Ich meinte aber nicht die Arbeitsbedingungen, sondern die eigene Arbeitshaltung, wie die unreflektierte Produktion von Medien, die die Welt eventuell doch nicht braucht. Wir müssen uns fragen, welche Daten produzieren und speichern wir, welche nicht. Nicht nur Prozessoren und Datenspeicher sind ressourcenverschlingend, weil sie kurze Zeit nach ihrer Herstellung schon technisch überholt und damit Schrott sind. Die Verwaltung und Organisation von Daten, jede Suchanfrage und jeder Avatar benötigt Strom. Täglich werden Millionen von Smileys per WhatsApp, Facebook und Co. verschickt. Die verwesen dann nicht einfach in den Chatverläufen, sondern werden auf den kraftwerkbetriebenen Serverfarmen künstlich am Leben gehalten. Zombie-Smileys – unsichtbar, aber dennoch präsent, wie der Plastikmüll auf dem Meeresboden. Eventuell gehen die Kinder der Fridays-for-Future-Bewegung für die Abschaffung von Kryptowährungen und Emojis auf die Straße, weil die einen CO2-Ausstoß produzieren, der dem des gesamten Flugverkehrs gleicht. Sinnvoller wäre es, wenn Gestalterinnen und Gestalter bei allen Medien ein Haltbarkeitsdatum implementieren oder Mechanismen installieren, die dafür sorgen, dass sich die User aktiv um ihren Datenmüll kümmern müssen.
Neue Metaphern und Modelle im Umgang mit den digitalen Systemen
So, wie sich erst ein Bewusstsein für unsere natürliche Umwelt und deren Verletzbarkeit entwickeln musste, müssen wir uns ein Bewusstsein für unser digitales Environment erarbeiten. Das gelingt eventuell auch leichter, wenn uns KI-Systeme die Kommunikation damit vereinfachen, indem sie Empathie von uns abverlangen. Wir kümmern uns um die Dinge, die uns emotional berühren. Da sehe ich eine große Chance. Derzeit werden ja oft nur die Gefahren der KI diskutiert, weil wir aus der Geschichte lernen und für spätere Generationen nicht so naiv dastehen wollen wie die Enthusiasten des Atomzeitalters, die glaubten, alle Energieprobleme gelöst zu haben, ohne zu bemerken, dass die scheinbare Lösung ein noch größeres Problem mit sich brachte – existenzbedrohenden Müll. Heute rudern wir zurück und schalten die Systeme wieder ab. „In die Ecke, Besen! Besen! Seid’s gewesen.“ Die Vorstellung, dass wir eines Tages unsere digitalen Systeme wieder abschalten, scheint abstrus. Aber wenn wir sie nur wegen eines ökonomischen, monetären oder technischen Wettbewerbs entwickeln, ohne uns zeitgleich einer Wertediskussion zu stellen, kann der Tag kommen, an dem wir vor einem digitalen Trümmerberg stehen. Damit das nicht passiert, brauchen wir neue Metaphern und Modelle im Umgang mit den digitalen Systemen. Wir müssen die digitalen Medien sprachlich zusammenführen und als Environment begreifen, das wir nicht nur entwickeln, sondern aktiv gestalten wollen.
Mit der Umbenennung unseres Kompetenzfeldes in „Digital Environments“ möchten wir dafür ein Zeichen setzen und unserer Arbeit ein neues Leitbild geben.
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