Eine Zeitenwende im Umgang mit behinderten Menschen sieht die Bundestagsabgeordnete und Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karin Evers-Meyer (SPD), derzeit heraufziehen. Ein wesentlicher Markstein auf diesem Weg sei das im August in Kraft getretene „Allgemeine Gleichstellungsgesetz“ (AGG), erklärte sie am Mittwochabend in einem Vortrag im Programm der „Hildesheimer Gespräche – Behinderte Menschen: gleichberechtigt statt ausgegrenzt“ in der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK). Eingeladen hatte hierzu die Verwaltungsprofessorin Dr. Gisela Hermes.
Evers-Meyer, die seit knapp einem Jahr im Amt ist, hat sich intensiv für die Verabschiedung des AGG eingesetzt. Die erhitzten und teils unsachlichen Debatten hierüber seien „keine Sternstunde des Parlamentarismus“ gewesen, berichtete sie. Ein Abgeordneter habe sich etwa das Diskriminierungsverbot Behinderter damit verbeten, er könne sich im Unterschied zu anderen Menschen die auf der Berliner Friedrichstraße ausgestellten Edel-Karossen nicht leisten und werde deshalb ebenfalls diskriminiert.
Unter diesen Vorzeichen sei das AGG trotz aller Mängel ein großer Schritt nach vorne. Künftig solle nicht die Fürsorge für behinderte Menschen, sondern deren Teilhabe am normalen Leben oberste Maxime sein. Dazu müssten räumliche Barrieren wie Türschwellen ebenso wegfallen wie rechtliche Hindernisse oder der Zugang Behinderter zu den Medien, forderte die Referentin. Der Hörsaal 1 der HAWK bot dabei gleich ein schlechtes Beispiel, fanden die zahlreichen Rollstuhlfahrer unter den Zuhörern doch nur einen Zugang über den Hintereingang und kaum Platz für ihre Rollstühle.
Das AGG habe vornehmlich die Gleichstellung Behinderter im Privatrecht zum Ziel. Der Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz sei dagegen bereits seit Jahrzehnten eingeführt. Künftig darf hingegen bei so genannten „Massengeschäften“ Behinderung kein Ausschlussgrund mehr sein. Etwa darf eine Versicherung behinderte Kunden nicht ablehnen, wenn sie standardmäßig gar nicht nach Behinderung fragt und diese bei der Risikobewertung in keinem sachlichen Verhältnis steht. Auch eine Gaststätte darf behinderte Gäste nicht wegen ihrer Behinderung vor die Tür setzen. Eine Ladenpassage müsse barrierefreien Zugang ermöglichen.
Den Betroffenen im Publikum riet die Politikerin nachdrücklich zu mehr Wehrhaftigkeit. Das Gesetz liefere nur den Rahmen, den die Gerichte erst abstecken müssten. Wer sich diskriminiert fühle, der solle mithin eine Klage auf Abstellung und Schadenersatz nicht scheuen. Werde etwa ein Behinderter allein aufgrund seiner Einschränkung nicht eingestellt, obwohl er die nötige Qualifikation habe, könne er maximal drei Monatsgehälter zum Ausgleich verlangen.
Reiche nicht das Gleichheitsgebot im Grundgesetz eigentlich aus, eröffnete eine Zuhörerin die anschließende Diskussion. „Die gesetzliche Wirklichkeit ist leider manchmal beschämend“, erwiderte die Behindertenbeauftragte. Als Mutter eines Körperbehinderten hat sie selbst den Marsch durch die Instanzen erlebt. Auch die zahlreichen Eingaben betroffener Bürger hätten sie in ihrer Überzeugung bestärkt. So sei die Mutter aus ihrer Wohnung geklagt worden, weil ihr behindertes Kind anders, nicht mehr oder lauter geschrieen habe als andere Säuglinge. „Da brauchen wir ein Gesetz, das solche Auswüchse abstellt.“
Mit den Betroffenen war sich Evers-Meyer schließlich einig, dass ein flächendeckendes Netz zentraler Beratungsstellen für Behinderte wünschenswert sei. Vor allem Zum Ende kommenden Jahres dürfte der Beratungsbedarf deutlich steigen. Ab 2008 bekommt jeder behinderte Mensch ein persönliches Budget. Über dieses Geld kann er frei verfügen und damit selbst entscheiden, ob er in einem Heim, einer Wohngruppe oder ambulant betreut leben möchte.
Martin Wein