Mal ein Semester im Ausland zu studieren, ist heutzutage sehr empfehlenswert, denn die neuen Erfahrungen erweitern ungemein den Horizont. So sah das auch André Spiehs und beschloss, im Zuge seines Studiums an der HAWK-Fakultät Gestaltung ebenfalls das Leben an der finnischen Partnerhochschule Kymenlaakson Ammattikorkeakoulu in Kouvola kennen zu lernen. Soweit so normal. Was nicht normal, sondern ganz und gar ungewöhnlich an Spiehs’ Plan war: Er fuhr mit dem Fahrrad hin und sein Kommilitone Andreas Kaufhold begleitete ihn – allein um der Tour willen. 2380 Kilometer, 28 Tage, 90 Prozent Sonnenschein, aber auch zwei Reifenpannen und ein Gepäckträger- und Sattelbruch waren die Reisebilanz.
Von Schwerin aus sind beide über Polens Ostseeküste nach Litauen, Lettland und Estland gefahren. Von Tallin aus ging die Fähre nach Helsinki und schließlich noch die letzten Fahrradkilometer über Lahti nach Kouvola. Warum mit dem Fahrrad? Sportbegeisterung und die Neugier auf die baltischen Länder waren die Motoren für die ungewöhnliche Anreise. André Spiehs sagt dazu: „Wenn man bedenkt, dass man bei der Tour vier Länder kreuzt, dann kann man sich ungefähr vorstellen, was für eine Menge an Eindrücken auf einen zukommen. Landschaft, Leute, Architektur, Tiere und natürlich all die Erlebnisse und Entdeckungen. Auf der anderen Seite ist da nicht nur die Neugierde und Reiselust, nein, sondern auch das Gefühl, etwas Abstand von der Heimat zu bekommen - ein wenig Zeit für mich selbst. Und natürlich auch die sportliche Herausforderung, die ich ja dann auch gemeistert habe.“
Die Energiereserven wurden mit jeder Menge Haferschleim mit Nüssen, Rosinen oder Marmelade, Nudeln mit Soße oder Soße mit Nudeln aufgefüllt. Den plagenden Mücken standen unendlich schöne Sonnenuntergänge mit sternklarem Himmel gegenüber.
André Spiehs schreibt nach seiner Ankunft in Finnland:
„Erst jetzt, ein paar Tage nach der ‚Tour D-FIN’, wie wir sie letztendlich genannt haben, wird das Ganze erst greifbar. Und wir denken, dass es auch noch eine Weile brauchen wird, bis wir wirklich jede Station unseres Road Trips und die sich damit verbindenden Erlebnisse verarbeitet haben. Doch eins steht fest: Wir sind angekommen und das ist die Hauptsache. Auch wenn es hin und wieder Rückschläge gab, haben wir uns gegenseitig motiviert. Nicht zu vergessen die Gastfreundschaft, die uns immer wieder ins Staunen gebracht hat. Noch nie haben wir so viel Freundlichkeit, Offenheit und Herzlichkeit entgegengebracht bekommen, wie in den letzten Monaten.
Darum an dieser Stelle, auch wenn diejenigen, die es betrifft, es nicht lesen können, ein riesiges Dankeschön. Vor allem an Andrje, den Kioskbesitzer aus Polen, der uns mit Wodka und Bier einen vorzüglichen Schlafplatz angeboten hatte. Wojtek, den polnischen Automechaniker. Stase, die litauische Bäuerin, die uns mit Speis und Trank und anderen litauischen Köstlichkeiten mütterlich überschüttete. Phillip, Lena und Yvo, die netten deutschen Bekanntschaften aus Riga. Und zu guter Letzt an den pensionierten, estnischen Geschäftsmann, dessen Sohn nach seiner Studienzeit in Deutschland Stuttgart-Fan geworden ist und natürlich an all die Gespräche mit der Heimat, ob Familie oder Freunde, die einem die Reise nicht so weit und unendlich erscheinen ließen.
Mit der Reise bot sich nicht nur in Sachen Gastfreundschaft, sondern auch landschaftlich eine große Bandbreite an, die von weiten, lang bis hin zum Horizont und darüber hinaus laufenden Straßen über stark hügeliges Gebiet, dessen Auf und Ab dem einer Achterbahn gleicht, bis hin zu verstaubten, tieftrockenen Schotter- und Sandpisten reichte, deren Befahren man noch Tage später spürte. An den Straßenseiten entlang erstreckten sich weite, grüne Alleen, Strommasten, auf denen sich Spatzen und anderes Vogelgetier niederließ, Stoppelfelder, grüne Wiesen, auf denen sich sowohl Störche als auch Kühe wohl fühlten, tiefe, dunkle, urige Mischwälder, in denen man nachts nicht einmal mehr den Sternenhimmel zu sehen vermochte, und viele kleine Bäche und Flussläufe, die immer mal wieder das Bild kreuzten.
Eins ist nach dieser Tour auf jeden Fall klar: Jeder Untergrund ist befahrbar und auch fahrbar. Sei es der tiefschwarze Asphalt einer Bundesstraße, der die Wärme der Sonne tagsüber zu speichern und nachts wieder abzugeben scheint, oder sandige Wege, die sich wie eine Wüste vor uns erstreckten und deren feiner Staub und Dreck sich noch Tage später auf unseren schwitzigen Körpern sichtbar abzeichnete. Man vermochte teilweise nicht mehr zu unterscheiden, was nun braungebrannt oder einfach nur staubig war. Doch in dem blaugrünen, kühlen Nass der herrlichen Seen spülten wir dann schlussendlich all die Unreinheiten hinweg.
Ein Resümee zu ziehen wäre vielleicht an dieser Stelle zu früh, darum sagen wir nur: Es war eine unheimlich schöne Erfahrung, diesen Road Trip gemacht zu haben und wir bereuen keine Sekunde davon. Erinnern werden wir uns auf jeden Fall.“
Soweit die Reisebilanz. Doch auch die Erfahrungen von einem Semester Auslandsstudium sind bemerkenswert: André Spiehs hat, wie gesagt, an der Kymenlaakson Ammattikorkeakoulu, der finnischen Partnerhochschule der Fakultät Gestaltung, studiert. Im dortigen Media Department belegte er einen ganz anderen Schwerpunkt als während seines Hildesheimer Studiums. Er schrieb Drehbücher und drehte Filme, die sogar im Internetfernsehen gesendet wurden. „Ein ideales Studium, um mal über den Tellerrand hinauszuschauen“, schwärmt André, „es gibt fast keine Grenzen und das Equipment ist echt klasse und sehr professionell.“ Durch diese neuen Impulse motiviert, ist er vor kurzem nach Hildesheim zurückgekehrt, um im Schwerpunkt Corporate Identity/Corporate Design sein Studium fortzusetzen. Übrigens: Bei der Rückreise hat André Spiehs sein Fahrrad im Bauch eines Flugzeuges untergebracht.