Erscheinungsdatum: 22.10.2015

7. Holzmindener Immobiliendebatte dreht sich um Quartiersentwicklung und die Integration von Flüchtlingen  

Das Quartier Latin, Studentenviertel in Paris, ist berühmtes Paradebeispiel dafür, was ein Stadtviertel ausmachen kann, wie eine Stadt in der Stadt ihren eigenen Charakter entwickeln, eine bestimmte Art von Menschen anziehen und ein besonderes Lebensgefühl entwickeln kann. Kreuzberg in Berlin, die List in Hannover oder das Schanzenviertel in Hamburg – in jeder Stadt gibt es Beispiele. Die sogenannten Quartiere haben eine lange Tradition, die Prof. Dipl.-Ing. Julian Wékel von der Universität Darmstadt den Studierenden, Lehrenden und Gästen im vollbesetzten Lichthof der HAWK in Holzminden vor Augen führte.

Brennende Herausforderung

Doch im Nachkriegs-Deutschland gerät die Idee der Quartiere aus dem Blick. Beim Wiederaufbau zerstörter Städte steht das einzelne Bauprojekt im Vordergrund. Erst seit den 1980er Jahren nehmen Planerinnen und Planer die Entwicklung von ganzen Vierteln wieder in den Blick – eine Renaissance des europäischen Stadtgedankens. Die aktuelle Frage der Unterbringung von hunderttausenden Flüchtlingen verleiht der Quartiersentwicklung besondere Brisanz. „Stadtquartiere: Planen. Leiten. Bauen.“ so lautete der Titel der siebten Holzmindener Immobiliendebatte der HAWK am Standort Holzminden, des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes, des Zukunftszentrums Holzminden-Höxter (ZZHH) sowie des Immobilien Manager Verlags IMV.

Roter Faden

„Die Themen der Immobiliendebatten haben traditionell Feuer“, sagte Standort-Dekanin Prof. Dr. Alexandra Engel zur Begrüßung der Gäste und renommierten Referenten, „wie brennend dieses Thema werden würde, haben wir bei der Konzeption der diesjährigen Debatte nicht geahnt.“ So zog sich denn auch das Thema Flüchtlinge wie ein roter Faden durch die Vorträge und Diskussionen – eingebettet in die Frage, wie denn lebendige Viertel am besten erhalten beziehungsweise entwickelt werden könnten.

"Wohnraum für alle"

Axel Gedaschko, Verfechter der Forderung nach „Wohnraum für alle“ sieht auch unabhängig von der aktuellen Herausforderung, die die Zahl der Flüchtlinge mit sich bringt, einen großen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum in Deutschland. Axel Gedaschko ist Präsident des GdW Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Die Zahl der Neubauten, so Gedaschko, hinke ohnehin schon den Notwendigkeiten hinterher. Um die Schere wenigstens nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen, müsse schneller und kostengünstiger gebaut werden. Dafür müsse das Thema Typenhäuser mit vorgefertigten Teilen von seinem ohnehin nicht gerechtfertigten schlechten Image befreit werden.

Können nicht anders

„Was wir uns heute in Deutschland leisten ist Manufaktur“, kritisierte Gedaschko. Im Hinblick auf das Thema der Debatte, die Planung von Quartieren und die Integration von Flüchtlingen, habe er eine klare Position: „Keine Konzentration von Flüchtlingen in einzelnen Gebäuden, keine Einrichtung von dauerhaften Unterkünften am Rande der Stadt, keine neuen Großsiedlungen.“ Einige dieser Fehler würden wir leider machen müssen, weil wir derzeit gar nicht anders könnten. „Wir sollten sie aber so schnell wie möglich wieder rückgängig machen“, mahnt der Experte.

Typenhäuser notwendig

Das soziale Gefüge sei es, was ein Quartier ausmache, darin waren sich alle Redner einig. Die Wünsche der Menschen müssten im Zentrum stehen. In Deutschland sei man aber weit entfernt von diesem Leitgedanken für Bauprojekte in den Niederlanden, beschrieb Han Joosten vom Bauträger Bouwfonds Property Development. Joosten leitet die Firmenniederlassung in Berlin sowie die Marktforschung seines Unternehmens. Er warf provokant in die Runde: „Wir bauen längst mit Typenhäusern, wir können schneller mehr bauen als Ihr Deutschen und wir fragen von Anfang an nach den Wünschen der Menschen, machen Umfragen, sammeln Daten im Vorfeld und beteiligen sie intensiv während des gesamten Projektes. Bei uns entscheiden nicht allein die Architekten über die Optik der Gebäude, sondern die Nutzerinnen und Nutzer. Das wäre in Deutschland undenkbar.“ Diese Vorgehensweise brauche ihre Zeit, räumte Joosten ein, sei aus seiner Sicht aber langfristig erfolgversprechender. Es gebe einen weiteren Riesenunterschied zwischen den Nachbarländern, führte Joosten auf: „In den Niederlanden tragen Kommunen das wirtschaftliche Risiko von Projekten mit. Das sei die beste Voraussetzung für gemeinsame Entscheidungen und lebendige Viertel.“

Netzknoten sind das Entscheidende

Die Renaissance der europäischen Stadt mit ihren lebendigen und erkennbaren Besonderheiten beschwor auch der Hauptredner der Immobiliendebatte, Prof. Dr.-Ing. Engelbert Lütke Daldrup, Staatssekretär für Stadtentwicklung und Umwelt des Landes Berlin. Heute müssten Quartiere professionsübergreifend und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft geplant werden. Hierzu fehle es bislang noch an geeigneten Instrumenten. Einhergehen müssten alle Planungen mit einem ökologischen Umbau, notwendig seien wirklich neue Mobilitätskonzepte, keine Sonntagsreden. Vor 30 Jahren habe man noch gedacht, die Städte würden sich im Zuge der neuen Kommunikationsprozesse durch das Internet auflösen. Weit gefehlt, heute zeige sich, dass „die Netzknoten und damit die Städte das Entscheidende sind“. Die Stadt sei das Zentrum der Wissensgesellschaft. Die heute 15- bis 35-Jährigen suchten ihren Lebensmittelpunkt in Städten. Erst später sei das Land eine Option. Das habe heute schon sichtbar sterbende Regionen zur Folge. Der Flüchtlingszustrom könnte in diesem Zusammenhang eine Riesenchance für schrumpfende Städte und Gemeinden sein. Auch mit Blick auf die Situation in einer Stadt wie Holzminden betonte Lütke Daldrup: „Endlich kommt neue Nachfrage. Es hängt viel davon ab, ob wir es schaffen, an solchen Orten das Migrationspotential zu nutzen.“

Vierzig Prozent weniger Regelungen

Man könne auf der einen Seite neu bauen, an andere Stellen sei es sinnvoller, leerstehende Gebäude herzurichten. Egal in welche Richtung man gehe, eines der Hauptprobleme bei der Realisierung von Projekten sei: „Der deutsche Regulationsapparat ist nicht mehr zu beherrschen“, sagte Lütke Daldrup aus eigenen Erfahrungen. „Vierzig Prozent weniger Regelungen für Bauprojekte“, fordert denn auch der Niederländer Joosten. Und GdW-Präsident Gedaschko konkretisiert: Während das aktuell wegen der Flüchtlingssituation verabschiedete Sonderrecht Standards außer Kraft setzt, die auf Dauer nicht außer Kraft bleiben sollten, ist das Standardrecht für Bauvorhaben bei weitem zu komplex. Die Diskrepanz sei zu groß. Hinzu käme, dass deutsche Gesetze nicht auf Quartiere, sondern auf Gebäude ausgerichtet seien. Gerade der ökologische Umbau könne auf Quartiere bezogen sehr viel mehr Flexibilität bei gleichem Umweltschutzeffekt hervorbringen. Seiner Meinung nach müsse nicht jedes Haus nach derselben Richtlinie ertüchtigt werden, sondern die Themen Wärmeerzeugung und Wärmedämmung könnten in einem größeren Kontext passgenauer konzipiert werden. Auch für diesen technischen Bereich spiele der Quartiersgedanke eine große Rolle.

Bei der Entwicklung von Quartieren in großen und in kleinen Städten, so hatte Lütke Daldrup zuvor schon die Strategie des Landes Berlin beschrieben, müsse im bestehenden Stadtraum eine Balance zwischen Innenverdichtung, offenen Räumen und sozialer Mischung das Ziel sein. Aber auch neue Wohngebiete, für die es in Berlin durchaus Konzepte gebe, müssten im Sinne des Quartiersgedankens entwickelt werden.

Bauherrengemeinschaften unterstützt

Die Stadt Hannover setze bei ihren Entwicklungsprojekten derzeit verstärkt auch auf sogenannte Bauherrengemeinschaften, berichtete Uwe Bodemann, Stadtbaurat der Landeshauptstadt Hannover. So sei direkt gewährleistet, dass die Wünsche der späteren Nutzerinnen und Nutzer realisiert werden könnten. Grundstücke oder bestehende Objekte würden je nach städtebaulicher Situation nicht an die Meistbietenden, sondern mit Festpreis und nach Konzept vergeben. Bodemann stellte einige in der Vergangenheit erfolgreich realisierte Projekte in der Landeshauptstadt vor.

Besseres Image

Ohnehin untermauerten alle Referenten ihre Ausführungen mit besonderen Praxisbeispielen, was für die Studierenden der Immobilienwirtschaft im Publikum die Theorie umso anschaulicher werden ließ. An die Studierenden appellierte auch Prof. Dr. Jürgen Erbach in seiner traditionellen Schlussrede. „Sie sind die Zukunft der Immobilienbranche. Sorgen Sie dafür, dass sie ein besseres Image bekommt. Sie können es konkret am Beispiel der Flüchtlinge tun.“ Quartiere könnten nur überleben und attraktiv sein, wenn sie sich durch Nutzungsvielfalt auszeichneten. Wohnen, leben, arbeiten und Versorgung – nur alles zusammen sei der Schatz der europäischen Stadt. In punkto Flüchtlinge appellierte Erbach an die Branche: „Macht Eure Häuser für die Flüchtlinge auf und macht Eure Verträge mit den Kommunen transparent, damit jeder und jede sehen kann, wieviel Geld fließt.“

Die Podiumsdiskussion hatte das Publikum zuvor interessiert und ausgiebig zu Anregungen und Fragen genutzt. Moderiert wurde die siebte Holzmindener Immobiliendebatte gewohnt fachkenntnisreich von Christof Hardebusch, Chefredakteur des Branchenmagazins ImmobilienManager.

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