HAWK-Studierende lernen in der Dombibliothek Hildesheim das genaue Hinsehen
Jetzt sitzt sie zwischen ihren Kommilitoninnen in der Dombibliothek Hildesheim vor einem Buch aus dem 17. Jahrhundert und soll es zeichnen, also von einer 3D-Vorlage in eine 2D-Zeichnung „übersetzen“, wie Dozent und Künstler Hannes Möller es nennt.
Nach zweieinhalb Tagen hat sie das Buch über den Belgischen Krieg immer noch nicht geöffnet, denn es geht um das genaue Erfassen der äußerlichen Strukturen. „Sie sind wesentlich für unsere Aufgabe einer ersten Diagnose“, erläutert HAWK-Prof. Ulrike Hähner, Leiterin der Vertiefungsrichtung Schriftgut, Buch und Grafik, zu Beginn der Lehrveranstaltung im Modul „Werkstoffkunde“. „Die Stabilität der Einbandmaterialien und der Heftungen haben sich im Verlauf der Jahrhunderte verändert. Mitunter gibt es größere Fehlstellen, sehr häufig an den Buchrücken, welche durch Benutzung und Aufstellung in den Regalen besonders beansprucht sind. Bereits der Schnitt und der Rücken tragen oftmals die wesentlichen Informationen zum Erhaltungszustand eines Buches“, führt sie weiter aus.
Und Emma Eßbach hält sich an die Vorgabe und nähert sich dem Buch in intensiver Betrachtung, bevor sie den Bleistift ansetzt. Am Ende soll eine detaillierte Zeichnung von Buchschnitt und -rücken auf ihrem Zeichenblatt entstehen. Eine unübliche Herangehensweise, mit dem die angehenden Restauratorinnen einen neuen unverstellten Blick auf die Einbandmaterialien und Heftungen erlangen sollen. Ausgesucht hat sie „ihr“ Buch, weil es einen Pergamenteinband hat, die handliche Größe sie ansprach und der offene Rücken sie reizte. Mit Hilfe der großen Expertise von Hannes Möller bringt sie auch die unterschiedlichen Ebenen gut auf das Papier.
Seit 2007 widmet sich der Künstler außergewöhnlichen Buchschätzen aus Bibliotheken und Archiven. Ihn interessieren vor allem Gebrauchsspuren und Schäden an den Einbänden, die von einer oft jahrhundertelangen Geschichte erzählen. Im März 2009 entdeckte er ein besonderes Exemplar in der Bibliothèque Humaniste im elsässischen Sélestat, das er mit Hilfe von Fotos in seinem Atelier überdimensional malte – der Beginn der „SOLITAIRE-Reihe“. Auch mit den sogenannten „Aschebüchern“ und „Brandbüchern“ aus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) in Weimar – Bücher, die bei dem Großbrand 2004 beschädigt oder zerstört wurden – hat sich Möller intensiv auseinandergesetzt und einen vierzig Arbeiten umfassenden Zyklus geschaffen. Dort entstand auch der Kontakt zu Prof. Ulrike Hähner, die in Weimar an vielseitigen Forschungen beteiligt ist und auch die Akademische Lehrwerkstatt der HAAB und HAWK mit eröffnete, in der Studierende direkt an brandgeschädigten Objekten Methoden der Papierrestaurierung erlernen können. Bereits das vierte Mal ist der Künstler in der Dombibliothek zum Modul „Werkstoffkunde“ in Hildesheim und schult, nach einer historischen Einführung in den Bestand der Dombibliothek von Philipp Heil, die Studierenden der HAWK im genauen „Hinsehen“ und „Verstehen“ des Objektes.
„Wie kann ich den Tesafilm von der Signatur in Aquarellfarben darstellen?“, fragt dabei Studentin Lioba Biehler speziell im Detail. Sie wollte einmal Kunst studieren, dementsprechend fällt auch die hohe Qualität ihrer Zeichnungen aus. „Der Zustand des Buches ist auch eine Quelle zur Geschichte des Buches“, sagt sie. Durch den gebrochenen Ledereinband an der oberen Kante des Rückens könne sie „wie durch ein Fenster“ hineingucken und die alten Buchbindertechniken und historischen Materialien analysieren.
Studentin Johanna Wolf ging die ganze Aufgabe erst einmal mit dem Geodreieck an, um die Proportionen und die Abstände zwischen den Bünden richtig darstellen zu können. Ihr, als gelernte Buchbinderin, habe vor allem die symmetrische Form des Buches gut gefallen. Zudem sei ihr die besondere und professionelle Herstellungsart sofort ins Auge gefallen.
„Die Ergebnisse überraschen uns immer wieder“, zeigt sich Prof. Hähner begeistert beim Rundgang in den zwei Zeichenräumen im ersten Stock der Dombibliothek. Die intensive Auseinandersetzung mit den Büchern bringe in jedem Fall immer gute Resultate auf das Zeichenpapier und eine gute Dokumentation des Ist-Zustandes. „Durch den langsamen Prozess des Zeichnens mit der Hand betrachten die Studierenden die Buchkonstruktionen und äußeren Eigenschaften der sichtbaren Materialien sehr viel genauer. Auf diesen wertvollen Erkenntnissen können wir dann in höheren Bachelor- und Mastersemestern für die Einbandkonservierung und -restaurierung in der Dombibliothek aufbauen. Hier ist es bedeutend, nachvollziehbare stabilisierende Methoden anzuwenden, die den Materialerhalt gewährleisten“, sagt Prof. Ulrike Hähner.
„Es ist für uns sehr komfortabel, dass die Restaurierung zu uns in die Bibliothek kommt. Die innovative Expertise ist für uns ein Glücksfall“, betont Dr. Monika Suchan, Direktorin der Dombibliothek und freut sich schon, wenn die Masterstudierenden der Restaurierung als Fortführung des aktuellen zeichnerischen Annäherns ans Objekt im dritten Bachelorsemester einige der ausgewählten Bücher in naher Zukunft – während weiterer Lehrveranstaltungen – konservieren und restaurieren.
Ausstellung von Hannes Möller in der Dombibliothek Hildesheim
Der Künstler Hannes Möller stellt vom 17. Februar bis 30. März in der Dombibliothek Hildesheim unter anderem die aus Hildesheim stammenden „Solitaire-Bücher“ aus. Im Abgleich dazu sind auch einige der Originale aus dem Bestand während der Öffnungszeiten zu sehen.