Erscheinungsdatum: 13.11.2015

Expert/inn/en bei Arbeitstagung an der HAWK sehen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft

Insgesamt etwa die Hälfte aller Firmengründerinnen und -gründer, vor allem im Bereich von Dienstleistungen und in einzelnen Handwerksberufen, sind Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichwohl wird dem Thema in Stadtplanungsprozessen oder im Bereich der Wirtschaftsförderung in Kleinstädten kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei handelt es sich um Potenziale, die angesichts der oftmals schwierigen demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung dringend ausgeschöpft werden müssten. Dies gilt auch im Hinblick auf die derzeitige Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Um „Migrantische Ökonomie“ ging es jetzt bei einer Arbeitstagung an der HAWK-Fakultät Ressourcenmanagement in Göttingen. Für eine Attraktivitätssteigerung des ländlichen Raumes in Bezug auf potentielle migrantische Existenzgründungen sei eine veränderte Förderung notwendig, war ein Fazit. Nun geht es um die Konkretisierung eines Projektvorhabens, in dem Möglichkeiten der Unterstützung migrantischer Gründungen mit unterschiedlichen Praxispartnern und -partnerinnen entwickelt und umgesetzt werden sollen.

Prof. Dr. Jörg Lahner
Prof. Dr. Leonie Wagner
Dr. Anke Kaschlik

Forschungsschwerpunkt DIALOG

Mehr zur Arbeitstagung „Migrantische Ökonomie“:

Viele Potentiale werden nicht genutzt
Mit der Tagung, die von den Veranstalter/inn/en Dr. Anke Kaschlik eingeleitet und von Professor Dr. Jörg Lahner und Professor Dr. Leonie Wagner moderiert wurde, sollten Möglichkeiten sogenannter „Migrantischer Ökonomie“, also spezifisch von Personen mit Migrationshintergrund gegründeten Unternehmen, für ländliche Gebiete ausgelotet werden. „Viele Potentiale werden nicht genutzt“, war Kaschliks Eingangsthese. Untersuchungen zu migrantischer Ökonomie in Bezug auf Kleinstädte oder ländliche Regionen liegen bislang nicht vor.

Sicheres und ausreichendes Einkommen
Kleine Städte in peripheren Regionen, also solche Städte, die in ihrer Entwicklung allein auf eigene Potenziale verwiesen sind, brauchen angesichts des ökonomischen und demographischen Wandels eine solide wirtschaftliche Basis. Dafür sind vor allem (junge) innovative Menschen, die sich vor Ort engagieren, unverzichtbar. Diese brauchen dort eine Lebensperspektive, das heißt, ein sicheres und ausreichendes Einkommen. Gleichzeitig sind die Stärkung der Innenstädte und die Minderung der Abwanderung Aufgaben der Stadtentwicklung. Während Untersuchungen zur Situation und unterschiedlichen Perspektiven des städtischen Kleingewerbes teilweise auch mit regionalem Bezug vorliegen, fehlt häufig eine Verknüpfung zu migrantischer Ökonomie, die gerade auch in ländlichen Räumen immer bedeutender wird.

Größte Dynamik bei Frauen und Migrant/inn/en
Immerhin, das stellte Dr. René Leicht von der Universität Mannheim und dem Institut für Mittelstandsforschung gleich zu Beginn seiner Ausführungen fest, sei die größte Dynamik in Bezug auf Existenzgründungen bei Frauen und Migrant/inn/en zu beobachten. Leicht befasst sich seit 15 Jahren mit migrantischer Selbstständigkeit und konnte dementsprechend einen breiten Überblick über Theoriegeschichte und statistische Entwicklung vermitteln. Die Frage etwa, warum Menschen gleicher ethnischer Herkunft in unterschiedlichen Ländern auch unterschiedlich aktiv sind, hat die Forschung mittlerweile zu einer banal klingenden, aber längere Zeit umstrittenen Erkenntnis gebracht: Sowohl kulturelle Faktoren der potenziellen Gründer/inn/en als auch die soziale Situation in den jeweiligen Gastländern spielen eine entscheidende Rolle für das unternehmerische Handeln von Migrant/inn/en.

Eher in großen Städten als auf dem Land
Was aber heißt das konkret für den deutschen Markt? Knapp 17 Prozent aller Selbständigen in Deutschland haben mittlerweile einen Migrationshintergrund, mit steigender Tendenz. „Das ist schon jeder fünfte bis sechste“, gibt der Mannheimer Wissenschaftler, der eigene Erhebungen und den Mikrozensus von 2011 ausgewertet hat, zu bedenken. Dabei räumt er gleichzeitig mit dem Mythos auf, dass es sich bei den unternehmerisch Aktiven vor allem um die Kinder der ehemals zugezogenen Zuwanderer handele. „Es stimmt nicht, dass die zweite Generation die Avantgarde ist“, denn bei 89,9 Prozent aller Selbstständigen mit Migrationshintergrund handele es sich um die Zugewanderten selbst. Die nämlich seien aufgrund ihrer Wanderungserfahrungen sowieso viel eher bereit, Risiken einzugehen, vermutet Leicht. Das allerdings, und da unterscheiden sich die migrantischen Existenzgründungen kaum von denen ohne Migrationshintergund, eher in großen Städten als auf dem Land.

Erfolg vom Bildungsgrad abhängig
Erfolgreiches migrantisches Unternehmertum, so Leichts zentrale These, könne aber auch in kleineren Städten gut funktionieren und zu einer Verbesserung des wirtschaftlichen Potentials beitragen. Ein nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg sei auch bei dieser Bevölkerungsgruppe vom Bildungsgrad abhängig und der Möglichkeit, am Wissenstransfer teilzunehmen. Und in dieser Beziehung bestünden dank Internet zwischen Ballungszentren und ländlichen Regionen kaum Unterschiede. Die Netzwerkbeziehungen zu den Herkunftsländern der Migrant/inn/en bergen zudem die Chance auf eine stärkere Internationalisierung des Mittelstandes in Kleinstädten.

Dreißig Prozent bei Gebäudereinigern oder Fliesenlegern
Im Handwerk allerdings, das in ländlichen Gebieten noch eine höhere Dichte aufweist als in den großen Städten, sind Migrant/inn/en in den zulassungspflichtigen Gewerken immer noch eher die Ausnahme. Gerade einmal 11,4 Prozent aller Betriebe aus diesem Bereich werden von einem Unternehmer/einer Unternehmerin mit Migrationshintergrund geführt, weiß Dr. Klaus Müller vom Volkswirtschaftlichen Institut für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen (ifh) zu berichten. Das stellt sich nach Müllers Analysen in den zulassungsfreien Gewerken wie etwa Gebäudereinigern oder Fliesenlegern, mit einem Anteil von 30 Prozent deutlich anders da. Aber, so Müller, die Überlebensrate des Unternehmens nach fünf Jahren sei auch deutlich geringer. Zulassungsbeschränkungen weiter zu senken scheint da eher keine Lösung, so die einhellige Meinung der Tagungsteilnehmer/innen.

Unternehmen im Netz
Flankiert wird Leichts These, möglichst um qualifizierte Migrant/inn/en zu werben, auch von einer großstädtischen Praktikerin, die mit einer speziellen Gruppe migrantischer Existenzgründer/inn/enErfahrungen gesammelt hat: Nancy Scott, Design-Thinkerin und systemischer Business Coach, arbeitet für die Berliner Initiative Selbständiger Immigrantinnen (ISI). Scott hat ebenfalls festgestellt, dass weitaus die meisten derjenigen migrantischen Frauen, die den Sprung in die Selbständigkeit wagen wollen, entweder Akademikerinnen sind oder schon eine kaufmännische Ausbildung absolviert haben. Der Durchschnitt der bei ISI Anfragenden sei mutig, habe meist schon Kinder und wolle trotzdem Vollzeit arbeiten und interessiere sich auch in sehr hohem Maße für das Thema „Unternehmen im Netz“ – mehr als für die klassische Gründungsvorbereitung. Das scheint tatsächlich - zumindest auf den ersten Blick – eher ortsungebundene Gründungsperspektiven nahezulegen.

Veränderte Förderung notwendig
Doch Scott weiß auch, dass es für eine Attraktivitätssteigerung des ländlichen Raumes in Bezug auf potentielle migrantische Existenzgründungen einer veränderten Förderung bedarf. Sie möchte die IHK bzw. die Handwerkskammer stärker in die Pflicht nehmen. Darüber hinaus schlägt sie mehrsprachige Kursangebote vor und spricht auf der HAWK-Tagung davon, dass man „Willkommensstrukturen auch sichtbar machen“ müsse. Was sie damit meint, zeigt sie anschließend exemplarisch anhand eines Flyers des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW), der Fachkräfte und potentielle Existenzgründer ansprechen soll. Komplett mit Personen ohne Migrationshintergrund bebildert, scheint schon rein optisch eine Grenze gezogen. „Da geht noch was“, weiß Scott und fordert darüber hinaus, dass für eine gelungene Förderung eben auch Migrant/inn/en selbst beraten müssten: „Die Hemmschwelle, sich an Förderinstitutionen zu wenden, sinkt, wenn diejenigen, die bewilligen, einen ähnlichen Hintergrund haben“, glaubt sie.

„Nur eine Wirklichkeit für den Markt“
Einer, der das in Hannover so repräsentiert, ist Mohktar Sotoudi von Gründung Interkulturell. Die empirischen Erfahrungswerte Sotoudis sind enorm, er kann auf mehr als 8000 Beratungen zurückblicken. Und er ist einer, der nicht nur fördert, sondern auch fordert. Es sei ihm egal, woher jemand komme, meint Sotoudi. Als Existenzgründer/in müsse man sich zwingend selbst reflektieren und der Tatsache stellen, dass es für den eigenen Markt nur eine Wirklichkeit gebe: „Und das ist die deutsche“, betont der Berater. Rechtsverständnis, Marktorientierung und ästhetisches Empfinden seien an dieser einen Realität zu messen, wolle man erfolgreich sein. Darum bleibe das Thema auch eines der Wirtschaftsförderung und nicht der Integrationsbeauftragten. Er versteht seine Arbeit weniger zielgruppenorientiert, sondern deutlich mehr als individualisierte Dienstleistung. Allerdings geht auch Sotoudi dafür durchaus auf potentielle Gründer/innen mit Migrationshintergrund stärker zu, seine Einführungsveranstaltungen finden nicht selten in Moscheen oder in Hinterhöfen statt.

Unterstützung migrantischer Gründungen
Angesichts knapper Kassen und fehlender ehrenamtlich organisierter Strukturen fühlen die Praktiker/innen im ländlichen Raum noch deutlich Diskussions- und Handlungsbedarf. Tatsächlich sehen sie gerade im Bereich der unterstützenden Institutionen und Angebote deutliche Nachteile im ländlichen Raum. „Unsere Tagung war ein erster Schritt, die Grundlagen überhaupt einmal zu sondieren“, sagt Jörg Lahner. Nun gehe es um die Konkretisierung eines Projektvorhabens, in dem Möglichkeiten der Unterstützung migrantischer Gründungen mit unterschiedlichen Praxispartnern und -partnerinnen entwickelt und umgesetzt werden sollen.

Potenziale wenig ausgeschöpft
Die Potenziale migrantischen Unternehmertums scheinen gerade im ländlichen Raum noch wenig ausgeschöpft. Dies biete aber gleichzeitig eine gute Möglichkeit, Unterstützungs- und Sensibilisierungsangebote zu entwickeln. Der Fokus auf Kleinstädte und deren spezifische, vermeintlich schwierigere Rahmenbedingungen dürfte demnach als Forschungsperspektive geeignet sein. Durch die interdisziplinäre Aufstellung des Veranstaltungsteams (Planung, Wirtschaftswissenschaften, Migrationsforschung) ergäbe sich darüber hinaus eine Herangehensweise, die Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung, aber auch die Migrant/innen selbst gleichermaßen intensiv in den Blick nehmen könnte.

HAWK- Forschungsschwerpunkt DIALOG
Schon seit 2012 beschäftigt sich die HAWK an ihren beiden Standorten Göttingen und Holzminden im interdisziplinären Forschungsschwerpunkt DIALOG mit der Gestaltung des demographischen Wandels speziell in ländlichen Regionen. Dabei arbeiten 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fakultäten Ressourcenmanagement sowie Management, Soziale Arbeit und Bauen mit Praxispartner/inn/en aus den niedersächsischen Regionen Cuxhaven, Cloppenburg, Nienburg, Holzminden und Duderstadt zusammen, um praxisorientierte Lösungsansätze für die Zukunft zu suchen.

Expert/inn/en bei Arbeitstagung an der HAWK sehen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft Migrantische Unternehmen – Potenziale auch für ländliche Räume? Migrantische Unternehmen – Potenziale auch für ländliche Räume?