Vielfältige Eindrücke aus sozialen Einrichtungen in Wien
In der Zeit vom 6. bis zum 10. Mai haben 20 Studierende des Masterstudienganges Soziale Arbeit im internationalen und interkulturellen Kontext an einer Exkursion nach Wien teilgenommen. Bei diesen sogenannten „field studies“ bekamen die Studierenden Einblicke in verschiedene Wiener Institutionen, schwerpunktmäßig aus den Arbeitsbereichen Obdachlosigkeit und Suchthilfe.
Darüber hinaus bekam die Gruppe bereits am Montag einen Eindruck vom jüdischen Wien. Bei einer Stadtführung durch den 2. Wiener Gemeindebezirk konnten sich die Studierenden durch zahlreiche Denkmäler, Erinnerungsprojekte und Hinweise auf sogenannten „Stolpersteinen“ ein Bild von den Schicksalen der Bewohner*innen des Viertels in der NS Zeit und dem heutigen jüdischen Leben in diesem diversen Teil Wiens machen.
Am Montagabend hat die Gruppe an einer Stadtführung von Shades Tours teilgenommen. Das besondere: Die Touren werden von obdachlosen Personen geführt, die auf sehr persönliche Art und Weise ihr Wien mit dem Fokus auf Armut, Obdachlosigkeit und das Wiener Sozialsystem zeigen.
Am Dienstag hat sich die Gruppe den Verein Neunerhaus beispielhaft am Café Neunerhaus angesehen. Dieses ist ein für alle geöffnetes Café, das anstatt fester Preise die Besucher*innen um individuelle Spenden bittet, sodass Menschen unabhängig von ihrem Budget ein warmes Tagesgericht, Gebäck, Kaffee, Tee und Kaltgetränke erhalten können. Angegliedert ist ein niedrigschwelliges Beratungsangebot durch zwei Sozialarbeitende vor Ort, welche lediglich durch eine Ansteckbrosche in Form einer Sprechblase erkennbar sind. Im Sinne des peer counseling war zum Zeitpunkt unseres Besuchs auch ein ehemals obdachloser Mann als Praktikant anwesend. Ein angestellter Sozialarbeiter hat uns über den gesamten Verein Neunerhaus informiert, der niedrigschwellige Unterstützung für wohnungs- und obdachlose Menschen durch (tier-)medizinische Versorgung, Beratungs- und verschiedene Wohnangebote bietet. Besonders beeindruckt hat im Café Neunerhaus die Vielfalt der Gäste, welche sowohl aus Wohnungs- und Obdachlosen, Mitarbeitenden des Vereins, als auch Menschen aus der Umgebung und Tourist*innen bestand und die Möglichkeit eines vorurteilsfreien Raumes und eines gemeinsamen Verweilens auf Augenhöhe in gemütlich stilvoller Atmosphäre bot.
Am Nachmittag traf sich die Gruppe in einem Gebäude der Medizinischen Universität Wien und erhielt zunächst einen privaten Vortrag von Dr. Igor Grabovac zu seiner Forschung über LGBT im medizinischen Kontext. Er ist momentan der einzige Assistenzarzt im Bereich der Sozialmedizin in Österreich. Nachhaltig betroffen haben hier die von ihm berichteten Schwierigkeiten bezüglich der Zulassung seiner Forschung zu den Themen Homosexualität und Transgender im medizinischen Kontakt und die teils sexistischen Ansichten in medizinischen Fachkreisen während seiner Forschung in Kroatien.
Darauf folgte ein Vortrag von Frau Dr.in Elena Jirovsky (Medizinanthropologin) über ihre Forschungsarbeit über weibliche Beschneidung und die kontroversen Gesichtspunkte dieser sensiblen Thematik, auch in Bezug auf den Umgang mit Betroffenen in der Sozialen Arbeit, welches innerhalb der Gruppe zu regem Austausch mit der Dozentin und untereinander im Hinblick auf Kultur und interkulturelle Arbeit führte.
Am Mittwochmorgen besuchte die Gruppe den Verein VinziRast. Dieser betreibt mehrere Projekte im Bereich der Flüchtlingshilfe und der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe, wie beispielsweise eine Notschlafstelle für obdachlose Menschen und ein Wohnhaus, in dem wohnungslose Menschen gemeinsam mit Studierenden in gemischten Wohngemeinschaften mit je 3 Personen im 9. Wiener Bezirk leben. An letzterem trafen wir uns mit der Leiterin zu einem Gespräch. Hier sind abgesehen von einer Sozialarbeiterin, die vorwiegend verwaltende und behördliche Tätigkeiten übernimmt, hauptsächlich Ehrenamtliche angestellt, was zu einem interessanten Austausch über Professionalität und Ehrenamt führte. Der Verein wird über Spenden finanziert und kann somit unabhängig von staatlichen Auflagen Menschen aufnehmen, die andernorts abgewiesen werden.
Am Nachmittag hielt die Philosophin Frau Dr.in Elisabeth Schäfer einen Vortrag zum Thema „Jenseits von Wut und Hass“ - Versammlungen queerer Körper des Widerstands und erlaubte uns einen anderen fachlichen Blick auf die Thematik des Ressentiments und der Bildung rechter Meinungen.
Abends traf sich die Gruppe mit Studierenden der St. Pölter Universität im Museumsquartier und tauschte sich in gemischten Kleingruppen über die jeweilige Gestaltung des Masterstudiengangs Soziale Arbeit im Ländervergleich Österreich-Deutschland und die Herausforderungen als Masterabsolvent*innen aus.
Am Donnerstag traf sich ein Teil der Gruppe im Cafe Raimann, um die bisherigen Programmpunkte und Ereignisse zu reflektieren. Dabei wurden Besonderheiten der Sozialen Arbeit in Wien und den besuchten Einrichtungen hervorgehoben und Erlebtes aufgearbeitet.
Der zweite Teil der Gruppe besuchte währenddessen die Einrichtung „Fix und Fertig“. Dies ist ein Sozialökonomischer Betrieb der vom Verein „Suchthilfe Wien gGmbH“ gegründet wurde. Hier haben Menschen die Substanzen konsumieren die Möglichkeit den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden und sich etwas dazu zu verdienen. Außerdem fördert die Arbeit das Selbstwertgefühl und strukturiert den Alltag. „Fix und Fertig“ beherbergt drei Arbeitsbereiche. Der erste ist der Textildruck. Hier werden Kleidung, Taschen und vieles mehr per Siebdruck oder andere Techniken bedruckt. Es werden sowohl Bestellungen angenommen, als auch Produkte für den Verkauf angefertigt. Ein weiterer Bereich ist der Versand und die Fertigstellung von Briefen. Das dritte Arbeitsfeld besteht aus einem weiten Spektrum von Renovierungsarbeiten. Viele Menschen, die durch ihren Drogenkonsum stigmatisiert werden, sind bei „Fix und Fertig“ angestellt, sowohl als Tagelöhner als auch in Transitarbeitsstellen. In der Einrichtung sind zwei Sozialarbeiter*innen tätig, die als Ansprechpartner*innen der Mitarbeitenden und als Organisator*innen fungieren.
Außerdem hatten die Studierenden die Möglichkeit sich mit dem Geschäftsführer und dem Sozialarbeiter auszutauschen und weitere Informationen über den Betrieb zu erlangen. Im Anschluss wurden die Gruppen ausgetauscht, sodass jede die Möglichkeit zur Reflexion und zum Besuch der Einrichtung hatte.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen hatten die Studierenden die Gelegenheit die schönsten und interessantesten Ecken Wiens zu erkunden. Unter anderem waren dies die Beachbars an der Donau, das Hundertwasserhaus, der Europatag in der Innenstadt, der Prater oder die Märchenidylle vom Schloss Schönbrunn.
Am Abend stand dann ein Theaterbesuch auf dem Programm. Geschaut wurde „Je suis Fassbinder“. „Der renommierte Theaterregisseur und Autor Falk Richter sieht durch das Prisma eines Werks von Rainer Werner Fassbinder auf die sogenannte Flüchtlingskrise 2016 und ihre Folgen“ (http://werk-x.at/produktion/je-suis-fassbinder online:09.06.2019).
Anschließend ließ die Gruppe den letzten Abend gemeinsam ausklingen.
Am Freitagvormittag hat die Gruppe die integrative Suchberatungsstelle des Vereins Dialog besucht. Ziel der größten ambulanten Suchthilfeeinrichtung ist es die Lebensqualität suchtgefährdeter Menschen und ihrer Angehörigen zu heben und sie zu stabilisieren. Wir haben Einblicke in die Geschichte der Wiener Suchtarbeit und die daraus resultierenden fortschrittlichen Angebote der akzeptierenden Drogenhilfe in Wien heute erhalten. Besonders beeindruckt hat die Anbindung von Substitutionsprogrammen an das reguläre Gesundheitssystem. Bei der Substitution wird der illegale Konsum von Opioiden (in der Regel Heroin) durch die medizinisch kontrollierte Vergabe eines stoffähnlichen Medikamentes ersetzt. In Österreich wird dabei, im Gegensatz zu Deutschland, zunehmend auf retardierte Morphine gesetzt, da diese eine stärker euphorisierende Wirkung haben als Methadon und Buprenorphin und es in Folge dessen seltener zu Beikonsum kommt.
Zum Abschluss der Exkursion haben wir das Thema Obdachlosigkeit mit dem Besuch der Caritas-Einrichtung „Die Gruft“ wieder abgerundet. Die Gruft ist eine Anlaufstelle für obdachlose Menschen, die 24 Stunden, 365 Tage im Jahr geöffnet ist und einen Platz zum Schlafen, warmes Essen, saubere Kleidung sowie die Möglichkeit zu duschen bietet. Das Projekt entstand 1986 in der Gruft der Mariahilferkirche aus einer Schüler*inneninitiative heraus. Zu diesem Zeitpunkt wurden dort zwei Stunden täglich Tee und Schmalzbrot an verteilt. Heute bietet die Gruft neben der Notschlafstelle und der Essensausgabe Beratung und Nachtstreetwork und stellt damit eine zentrale Anlaufstelle für obdachlose Menschen in Wien dar.
Damit war die Exkursion jedoch noch nicht für alle zu Ende.
Die stellenweise Zerstörung der ‚Alltagsskulpturen Mahnmal’ von Catrin Bolt durch Straßenbauarbeiten hat uns nachhaltig beschäftigt. Die Künstlerin hat Zitate von jüdischen Menschen, die während der NS Zeit im zweiten Wiener Gemeindebezirk gelebt haben oder dort untergebracht wurden mit schwarzem Teer auf die Straßen gebracht. Die Lücken, die durch neuen Straßenbelag in den Schriftzügen entstanden, sind ein Sinnbild für das zunehmende Vergessen und Verleugnen der Erinnerungskultur und des Gedenkens an die jüdische Gemeinde und an ihre Geschichten in der heutigen Zeit.
Ein Teil der Exkursionsgruppe hat sich entschlossen ein Zeichen gegen das Vergessen zu setzen. Am Freitagnachmittag haben wir die fehlenden Worte in den Schriftzügen mit bunter Kreide ergänzt.